Radikaler PerspektivwechselBAföG als Teil eines Bildungsgeldes
Von Klemens Himpele und Sonja Staack
Dieser Artikel erschien unter dem Titel "Bildungsfinanzierung neu gedacht" (und anderen einführenden Sätzen) zuerst in Forum Wissenschaft (Heft 3/2011), herausgegeben vom Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) (diese Ausgabe in Kooperation mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)). Wir danken dem BdWi und den AutorInnen für die Genehmigung, den Artikel auch bei Studis Online publizieren zu dürfen. |
Debatten um die Weiterentwicklung des BAföG gibt es schon so lange wie das BAföG selbst. Nicht zuletzt in Vorbereitung auf eine rot-grüne Bundesregierung sind in den 1990er Jahren zahlreiche Modelle diskutiert und letztlich verworfen worden.1 Dabei werden von den fortschrittlichen Akteuren insbesondere zwei Problemfelder benannt. Zum einen geht es um die Frage, ob das BAföG als soziale Mindestsicherung ausreichend ist: Unterstützt es als Sozialleistung gerade diejenigen, die es am dringendsten benötigen, ausreichend und zielsicher? Dies berührt zunächst die Frage, ob die Höhe der Leistung ausreichend ist. Es geht jedoch auch um den Kreis der BAföG-Berechtigten sowie um die Debatte, ob Sozialtransfers als (Teil-)Darlehen gewährt werden sollten. Die Förderdauer, die Frage möglicher biografischer Entwicklungen (etwa: Studiengangwechsel), die Repressionsfreiheit sowie die Diskussion um Altersgrenzen sind weitere Punkte für eine entsprechende Einschätzung. Diese Probleme ließen sich grundsätzlich innerhalb des bestehenden Systems lösen – vorausgesetzt, es wird insgesamt deutlich mehr Geld für die Ausbildungsförderung zur Verfügung gestellt.
Das zweite Problemfeld ist die Elternabhängigkeit des BAföG. Insbesondere studentische Verbände und Interessenvertretungen formulieren den Anspruch, als erwachsene Menschen eigenständig und völlig unabhängig von ihren Eltern behandelt zu werden. Die Debatte hat eine lange Tradition, wobei sich die Forderungen wie Argumente seit der 1961 verfassten Denkschrift »Hochschule in der Demokratie« des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) immer wieder partiell verschoben haben.2 Insoweit das Studienhonorar als Entgelt für das Studium als gesellschaftlich wertvolle Arbeit beschrieben wird, ist es meist mit der Vorstellung verknüpft, dass es allen Studierenden zustehen soll. Gleichwohl gehen andere Forderungen davon aus, dass die Förderung zwar nicht mehr von den Eltern, wohl aber weiterhin vom Einkommen und Vermögen der Studierenden selbst abhängen soll – grundsätzlich also eine nachrangige Sozialleistung bleibt.
Bereits aus dem historischen SDS heraus wurde in der Langfassung der Denkschrift darauf hingewiesen, dass es sich beim Studienhonorar weniger um einen Bestandteil sozialistischer Gesellschaftsreform, sondern schlicht um ein »zweckmäßiges, weltanschaulich relativ neutrales sozialpolitisches Instrument« handle – »tatsächlich [...] hat das Studienhonorar mit Sozialismus oder Syndikalismus so viel zu tun wie etwa die beitragsfreie Familienversicherung«.3 Hierüber hinaus schließt sich die Denkschrift der von der Katholischen Deutschen Studenten-Einigung vorgebrachten Kritik an, die Einführung eines Studienhonorars sei solange als sozial ungerecht zu bewerten, »als noch nicht durch ein entsprechendes Steuersystem oder Einkommensgefüge gewährleistet sei, daß sich kein Akademiker auf Grund seiner Ausbildung bereichern könne«.4 Auch in der aktuell wieder Konjunktur gewinnenden Debatte um die Einführung eines Studienhonorars lohnt es sich, die Modelle etwas genauer zu betrachten und auf ihre sozialen Verteilungswirkungen hin abzuklopfen.
Reformbedarfe
40 Jahre gibt es das BAföG bereits – Zeit, über grundlegende Verbesserungen nachzudenken
Sowohl die Frage, ob das BAföG eine ausreichende Sozialleistung ist, als auch die Forderung nach einer Elternunabhängigkeit sind legitim – sie können aber in Widerspruch zueinander geraten. Denn zusätzliche finanzielle Mittel könnten auf der einen Seite verwendet werden, um damit die Bedürftigen besser zu fördern, etwa, indem der Darlehensanteil zurückgefahren wird oder die BAföG-Sätze dem tatsächlichen Bedarf angepasst werden. Auf der anderen Seite könnte ein finanzieller Zuwachs dem Aufbau eines elternunabhängigen BAföG bzw. elternunabhängiger Bestandteile dienen. Damit würden dann diejenigen besser gestellt, die bisher keine Förderung erhalten haben – und das sind im derzeitigen System vor allem Studierende aus Elternhäusern mit mittleren und hohen Einkommen. Die heutigen BAföG-Empfänger/innen gingen in diesem Fall bestenfalls leer aus – schlechtesten Falls müssten sie am Ende sogar ›draufzahlen‹.5
Richtig ist: Die Forderung nach einer elternunabhängigen Förderung im Studium ist berechtigt. Kinder wohlhabender Eltern erhalten zwar einen gut auskömmlichen Unterhalt, dafür wollen sich die Eltern aber häufig auch nicht nehmen lassen, die Wahl des Studienfaches und den Studienfortschritt mit zu beeinflussen. Es wäre gut, wenn unser Sozialstaat Studierende bereits als eigenständige Erwachsene anerkennen und aus der finanziellen Abhängigkeit von ihren Eltern befreien würde. Richtig ist aber auch: Viel zu viele, die keine wohlhabenden Eltern haben, entscheiden sich Jahr für Jahr gegen ein Studium, weil sie sich den Lebensunterhalt schlicht nicht leisten können, weil sie anhand der zu engen Grenzen des BAföG nicht anspruchsberechtigt sind oder weil sie sich davor scheuen, sich für das Studium zu verschulden. Die soziale Selektivität des deutschen Bildungssystems ist hinreichend bekannt und es gibt gute Gründe, Kinder aus finanzschwachen Elternhäusern gesondert zu fördern. Bereits heute starten diejenigen, die auf BAföG angewiesen sind, auf Grund seines Darlehensanteils mit Schulden von bis zu 10.000 Euro ins Berufsleben.
Hier liegt der größte Skandal des BAföG in seiner jetzigen Form: Es ist eben nicht in der Lage, jedem und jeder unabhängig vom sozialen Hintergrund den Weg an die Hochschulen zu öffnen – denn die Angst vor Verschuldung schreckt viele von der Aufnahme eines Studiums ab. 71 % der Studienberechtigten, die auf eine Studienaufnahme verzichten wollen, gaben als einen Grund, der (sehr) stark gegen eine Studienaufnahme spricht, an, »Schulden zu machen aus Krediten zur Ausbildungsfinanzierung (z. B. Studienkredite, BAföG-Darlehensanteil).«6 Das Ziel einer sozialen Öffnung der Hochschulen darf aber die gesellschaftliche Linke, wenn sie über Strukturreformen des BAföG diskutiert, nie aus den Augen verlieren. Ein BAföG etwa, das elternunabhängig ausgezahlt wird, dabei aber nicht auskömmlich ist und – zumindest zu Teilen – als Darlehen später zurückgezahlt werden muss, könnte den Anspruch einer sozialen Öffnung der Hochschulen weniger erfüllen als das heutige BAföG.
Elternunabhängigkeit ist mithin nicht per se ein Fortschritt. Die verteilungspolitischen Fragen erschöpfen sich dabei jedoch nicht in der Abwägung zwischen den Polen einer umfassenden Förderung von finanzschwachen Schichten und der Finanzierung eines elternunabhängigen BAföG für alle. Darüber hinaus ist etwa kaum zu begründen, warum eine elternunabhängige Finanzierung eine Sonderregelung für Studierende sein sollte – auch junge Menschen in einer vollzeitschulischen Ausbildung oder einer schlecht bezahlten dualen Ausbildung sollten dann einen Anspruch auf eine entsprechende Förderung erhalten. Und schließlich darf eine weitere Frage keinesfalls unter den Tisch fallen: nämlich die, wer zahlt.
Finanzaufwand bei Elternunabhängigkeit
Wer eine elternunabhängige Bildungsfinanzierung will, muss eine Menge Geld in die Hand nehmen. Bisher fehlen ausformulierte und durchgerechnete Modelle, so dass im Folgenden eine erste Abschätzung des Finanzbedarfs vorgenommen wird. Hierbei werden in einem ersten Schritt die Kosten eines Studienhonorars berechnet und in einem zweiten Schritt weitere Ausbildungswege in ein mögliches Modell für ein allgemeines Bildungsgeld aufgenommen.
Ausgangspunkt unserer Berechnungen ist eine monatliche Förderung in Höhe von 762 Euro. Dies entspricht laut der aktuellen Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks den durchschnittlichen Lebenshaltungs- und Studienkosten77 – die Forderungen der verschiedenen Verbände für ein Studienhonorar liegen freilich teils deutlich hierüber. Derzeit gibt es in Deutschland über 2,1 Mio. Studierende (davon 245.000 ausländischer Herkunft), welche nach der Idee des Studienhonorars unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern sowie unabhängig vom eigenen Einkommen gefördert werden sollten.8 Hieraus ergeben sich jährliche Kosten von 19,3 Mrd. Euro. Davon können einerseits die Kosten für den Zuschussanteil des BAföG in Höhe von knapp 1 Mrd. Euro9 sowie andererseits Kosten für Kindergeld und kindbezogene Freibeträge von geschätzt gut 3,6 Mrd. Euro10 abgezogen werden. Denn zum einen würde das BAföG für Studierende ja durch das Studienhonorar ersetzt. Zum anderen sollte parallel zur Einführung eines Studienhonorars dafür gesorgt werden, dass die steuerlichen Vorteile für Eltern von studierenden Kindern wegfallen, denn die Finanzierung des Lebensunterhaltes während des Studiums müsste dann nicht mehr von den Eltern geleistet werden.
Es verbleiben demnach bei Einführung eines Studienhonorars jährliche Mehrkosten von knapp 15 Mrd. Euro (bzw. ohne ausländische Studierende knapp 13 Mrd. Euro). Zum Vergleich: Die Einnahmen aus der Körperschaftssteuer betrugen 2010 insgesamt gerade einmal 12 Mrd. Euro. Oder: Die Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer) müsste zur Gegenfinanzierung um etwa zwei Prozentpunkte angehoben werden.
Der oben bereits geforderte Blick über den hochschulischen Tellerrand erhöht die Kosten weiter: Auch wer seine Ausbildung in einer Berufsschule absolviert, erhält heute nur dann BAföG, wenn die Eltern die Finanzierung des Lebensunterhaltes nicht leisten können. 1,1 Mio. Schüler/innen befinden sich aktuell in einer schulischen Berufsausbildung11 und wären damit ebenfalls Zielgruppe einer elternunabhängigen Bildungsförderung. Eine langjährige Forderung der gesellschaftlichen Linken ist außerdem der Wiederausbau des Schüler/innen-BAföG für die allgemeinbildende Oberstufe – in der Sekundarstufe II allgemeinbildender Schulen sowie an Abendschulen und Kollegs befinden sich derzeit weitere 1,1 Mio. Schüler/innen.12 Für die deutlich über 1 Mio. Auszubildenden im dualen System gilt zwar, dass sie grundsätzlich von den Arbeitgebern finanziert werden (sollten). De facto allerdings besteht hier längst weitgehend ein Kombilohnsystem, in dem Eltern oder Staat die Ausbildungsvergütung erheblich aufstocken, damit auch Azubis den BAföG-Fördersatz erreichen. Auch hier springt der Staat – in diesem Fall über die Berufsausbildungsbeihilfe der Arbeitsagenturen – nur dann ein, wenn die Eltern nicht zahlen können. Sollte die Elternabhängigkeit bei den Studierenden fallen, werden auch diese Gruppen nicht zu Unrecht eine elternunabhängige Förderung einfordern.
Modellrechnung Bildungsgeld
Die Debatte müsste folglich über ein Bildungsgeld – und weniger über ein Studienhonorar – geführt werden. Dabei besteht die große Schwierigkeit in der Eingrenzung der Bildungsgeldberechtigten. Denkbar wäre, die Bildungsförderung ab dem 18ten Geburtstag elternunabhängig zu gestalten – also mit der Volljährigkeit. Ein solches »Erwachsenen-Bildungsgeld« würde – anders als ein reines Studienhonorar – die verschiedenen Bildungsbereiche nach den gleichen Maßstäben messen. Auch Studierende würden dann, sofern sie bereits mit 17 ihr Studium aufnehmen, erst ab dem 18. Geburtstag eine elternunabhängige Förderung erhalten. Ein solches Modell würde zudem dem Anspruch genügen, dass junge Menschen mit der Volljährigkeit selbst die volle Verantwortung für die Gestaltung ihres eigenen Lebens übernehmen. Für die Lebenshaltungskosten minderjähriger Lernender stünden dagegen weiterhin die Eltern in der Verantwortung; der Staat würde nur dann zahlen, wenn die Eltern hierzu nicht in der Lage sind. Die Altersgrenze der Volljährigkeit hätte den Charme, dass das Unterhaltsrecht grundsätzlich auf Kinder unter 18 Jahren beschränkt werden könnte und sich damit gleichzeitig die familienbezogenen Steuervorteile für die Eltern volljähriger Kinder streichen ließen.
Verfassungsrechtliche Bedenken zur Streichung von Kindergeld und kindbezogenen Freibeträgen dürften sich durch die klare Beschränkung der Unterhaltspflicht auf Minderjährige entkräften lassen.13 Im Folgenden stellen wir eine Modellrechnung für die Kosten eines solchen Bildungsgeldes auf.
Das Bildungsgeld würde rund 3 bis 4,5 Mio. Lernenden zu Gute kommen: Je nachdem, ob man ausländische Studierende einbezieht, ob man Schüler/ innen an Abendschulen und Kollegs berücksichtigt (die häufig nebenberuflich besucht werden) und ob man gleichzeitig eine Mindestausbildungsvergütung14 einführt, die eine zusätzliche Unterstützung von Azubis im dualen System überflüssig machen könnte. Die mit Abstand größte Gruppe würden mit rund 2,1 Mio. die Studierenden stellen, da der Anteil unter 18-Jähriger unter den Studierenden im Gegensatz zu den anderen Bildungsbereichen verschwindend gering ist.15 Hinzu kommen etwa eine halbe Mio. volljährige Schüler/innen allgemeinbildender Schulen und etwas über 1 Mio. Menschen über 18 Jahre in beruflicher Ausbildung bzw. an Berufsschulen . Wenn man den oben bereits genannten Betrag von 762 Euro monatlich als Fördersatz annimmt, ergibt sich insgesamt ein Finanzaufwand von 30 bis 37 Mrd. Euro jährlich.16 Demgegenüber stehen die jetzigen Förderleistungen des Bundes an Lernende: Das BAföG für Studierende und Schüler/innen an allgemeinbildenden sowie an beruflichen Schulen sowie die Berufsausbildungsbeihilfe nach SGB III für betriebliche und außerbetriebliche Auszubildende.17 Insgesamt summieren sich diese Förderleistungen auf rund 2 Mrd. Euro im Jahr.18 Weit stärker ins Gewicht fallen die Steuerersparnisse der Eltern dieser Lernenden durch die kindbezogenen Freibeträge bzw. das Kindergeld. Unter den potentiellen Empfänger/innen des Bildungsgeldes befinden sich – je nach Zuschnitt der Zielgruppe (s. o.) – 2,7 bis 3,3 Mio. Kindergeldberechtigte. Der Staat zahlt über den Familienleistungsausgleich an deren Eltern jährlich geschätzte 6,3 bis 7,7 Mrd. Euro (bzw. verzichtet auf entsprechende Steuereinnahmen).19
Das heißt unterm Strich: Ein Bildungsgeld für erwachsene Lernende würde – bei einer gleichzeitigen Beschränkung der Unterhaltspflicht von Eltern auf minderjährige Kinder – für die öffentliche Hand Mehrkosten von jährlich 24 Mrd. Euro bedeuten(+/-2,7 Mrd. je nachdem, wie weit die Zielgruppe gefasst wird). Eine Unabhängigkeit der Bildungsförderung vom Einkommen und Vermögen der Eltern bedeutet dabei nicht, dass das Bildungsgeld auch vom eigenen Einkommen und Vermögen unabhängig sein muss. Wer etwa ein Studium berufsbegleitend absolviert und von seinem Einkommen gut leben kann, ist auf eine staatliche Förderung nicht angewiesen. Der grundlegende Ansatz des BAföG, eigenes Einkommen jenseits von definierten Freibeträgen anzurechnen, könnte also durchaus erhalten bleiben. Es ist allerdings davon auszugehen, dass im Rahmen der heute geltenden Altersgrenzen des BAföG bzw. für die Erstausbildung die Anrechnung von eigenem Einkommen und Vermögen der Lernenden weniger ins Gewicht fällt und die Kosten somit nur marginal verringert.
Richtig Umverteilen!
Die überschlägige Rechnung für die Kosten der Einführung eines Bildungsgeldes macht deutlich: Mit einer kleinen Steuerreform ist es zur Gegenfinanzierung nicht getan. Wenn die Mehrkosten von 24 Mrd. Euro jährlich – welche mindestens zur Hälfte an Studierende fließen – durch eine Anhebung von (indirekten) Massensteuern finanziert würden, würde dies eine massive Umverteilung von unten nach oben bedeuten. Denn profitieren würden in erster Linie Lernende, die aus Elternhäusern mit mittleren oder hohen Einkommen kommen (andere bekommen ja heute bereits BAföG – und sind unter den Studierenden leider ohnehin unterrepräsentiert), die Massensteuern (insbesondere die Mehrwertsteuer) werden hingegen von allen bezahlt. Studierende und andere erwachsene Lernende würden sich zwar von ihren Eltern emanzipieren – allerdings auf Kosten einer fatalen gesamtgesellschaftlichen Umverteilung.
Eine sinnvolle Umsetzung einer elternunabhängigen Bildungsförderung erfordert also eine deutlich breitere Perspektive. Der gesamte Sozialstaat und seine Finanzierung sind hier in den Blick zu nehmen. Es geht insgesamt um eine Individualisierung des Sozialsystems; Leistungen und Belastungen für Erwachsene sollten grundsätzlich Individuen zugerechnet werden, und nicht Ehegatten, Mitbewohner/innen oder Eltern.20 Das heißt, das Ehegattensplitting ist abzuschaffen (was etwa 10 Mrd. Euro zusätzliche Einnahmen aus der Einkommensteuer nach sich zöge), das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaften bei Hartz IV ist aufzulösen und Leistungen für erwachsene Menschen sind direkt an diese zu bezahlen – und nicht an ihre Eltern. Gleichzeitig verlören erwachsene Lernende ihren Unterhaltsanspruch gegenüber ihren Eltern und Eltern volljähriger Kinder verlören ihre Steuervorteile. So könnte ein Bildungsgeld für Erwachsene Bestandteil einer umfassenden Sozialstaatsreform werden.
Wirklich sozial wird diese Reform erst, wenn sie sozial finanziert wird. Bisher leisten Eltern mit mittleren und hohen Einkommen über die Unterhaltsleistungen an ihre Kinder einen erheblichen Anteil zur Finanzierung der Ausbildung der jungen Generation – so stammen etwa unter den Studierenden 48 % der Einnahmen zur Finanzierung des laufenden Lebensunterhaltes von den Eltern.21 Diese Mittel dürfen durch eine Reform nicht einfach verloren gehen. Es kann eben nicht sein, dass Kinder aus finanzstarken Elternhäusern das Studium vom Staat – also von der Allgemeinheit – finanziert bekommen, und später das Geld, das die Eltern hierdurch gespart haben, auch noch erben. Daher muss dieses Geld über erhöhte Steuern – sachlogisch wäre eine Erhöhung der Erbschafts- und Vermögenssteuer – eingezogen werden.
Entsprechende Steuermodelle liegen längst vor: Sowohl ver.di als auch die GEW streben Mehreinnahmen von 6 Mrd. Euro bei der Erbschaftssteuer und 20 Mrd. bei der Vermögenssteuer an.22 Damit würde die Familienbindung des deutschen Sozialsystems sozusagen beidseitig gelöst: Die Eltern müssten nicht mehr für die Ausbildung ihrer erwachsenen Kinder aufkommen, dafür aber einen größeren Anteil ihres (aktuellen bzw. später zu vererbenden) Vermögens an den Staat abführen. Zu beachten ist hierbei allerdings auch: ver.di und GEW haben – genau wie viele andere Vorschläge für eine Steuerreform – die angestrebten Mehreinnahmen längst verplant, nicht zuletzt für eine Aufstockung der öffentlichen Ausgaben für Kitas, Schulen, Hochschulen und andere Bildungsträger. Die Finanzierung eines Bildungsgeldes würde folglich voraussetzen, die Steuereinnahmen über bisher vorliegende Vorschläge hinaus noch weiter zu erhöhen. Nur in diesem Gesamtpaket – Bildungsgeld für Erwachsene in allen Bildungsbereichen, Auflösung des Unterhaltsrechts für Volljährige, umfassende Steuerreform mit heftigen Erhöhungen der Vermögens- und Erbschaftssteuer – wird aus der Forderung nach einer elternunabhängigen Studienfinanzierung ein linkes Projekt.
Reformschritte formulieren
Der große Wurf ist ein langfristiges Projekt, das BAföG ist jedoch bereits heute dringend reformbedürftig. Hierbei steht eine Verbesserung der Situation der Schwächsten im Vordergrund: Der Darlehensanteil muss zugunsten eines Vollzuschusses abgeschafft werden. Hierfür müssen Bund und Länder kurzfristig 1 Mrd. Euro jährlich zur Verfügung stellen. Zudem müssen die Bedarfssätze den Bedürfnissen der Studierenden angepasst und demnach erheblich erhöht werden, die strikten Regelungen bei Studienfachwechseln oder einer längeren Dauer des Studiums sind zu lockern.
Auch für eine Politik der kleinen Schritte innerhalb des bestehenden Systems bleibt zudem die Forderung richtig, dass mehr Menschen BAföG erhalten müssen. Hierfür müssen vor allem die entsprechenden Freibeträge für das Einkommen der Eltern erhöht werden. So könnte das viel zitierte ›Mittelstandsloch‹ des BAföG Schritt für Schritt gefüllt werden. Beginnend von den Schwächsten aus würden mehr und mehr Lernende BAföG erhalten und die Perspektive eines ›BAföG für alle‹ ließe sich durch einen schrittweisen Ausbau ›von unten‹ anstreben. Als Zwischenschritt auf dem Weg zu einem allgemeinen Bildungsgeld ist einem Vollzuschuss für die ›untere‹ Hälfte der Studierenden allemal der Vorzug zu geben vor einer elternunabhängigen Förderung, die – wie das heutige Studierenden-BAföG – zur Hälfte als Darlehen gezahlt wird.
Es gilt jedoch auch: Nicht alles, was bildungs- und sozialpolitisch sinnvoll und nötig ist, kann innerhalb des BAföG geregelt werden. Insbesondere wer nach einer umfassenden Absicherung lebenslangen Lernens ruft, wird das BAföG strukturell überfordern. Zwar ist die Forderung der Streichung der Altersgrenzen im BAföG unterstützenswert. Wer nach einigen Jahren im Berufsleben etwa ein weiterbildendes Studium anstrebt, dem wird in den meisten Fällen mit einer sozialen Mindestsicherung wie dem BAföG kaum geholfen werden können. Nötig wäre stattdessen eine Sicherung des Lebensstandards in Weiterbildungsphasen. Die meisten hierfür aktuell vorgeschlagenen Modelle laufen auf eine vollständige oder teilweise Kreditfinanzierung entsprechender Bildungsphasen hinaus – sei es im Rahmen der KfW-Bildungskredite, eines zu schaffenden Erwachsenenbildungsförderungsgesetzes oder ähnlichem. Eine breite Beteiligung ist aber auch im späteren Lebensverlauf nur zu erreichen, wenn Bildungsphasen nicht mit Verschuldung einhergehen. Es gilt also, über andere mögliche Modelle zu diskutieren – etwa über einen Ausbau der Arbeitslosenversicherung, welche künftig auch die Aufgabe einer Absicherung von Bildungsphasen übernehmen könnte. Durch Beitragszeiten könnten Rechtsansprüche auf eine entsprechende Finanzierung erworben werden, die die Erhaltung des Lebensstandards, also auch etwa die Finanzierung einer Familie, gewährleisten und gleichzeitig Freiräume für individuelle Bildungswege öffnen könnten. Reif wäre die Zeit für entsprechende Modelle allemal.
Das BAföG ist 40 Jahre alt – allein das ist ein politischer Erfolg. Aber das BAföG muss weiterentwickelt werden. Viele konkrete Anforderungen hierfür haben wir benannt. Das Projekt einer elternunabhängigen und bedarfsdeckenden Studienfinanzierung kann – wenn es dabei um eine ernsthafte Debatte mit realen Optionen gehen soll – nur durch ein vom-Kopf-auf-die-Füße-Stellen des gesamten Sozialsystems gelingen. Dies ist eine Herkulesaufgabe. Das BAföG-Jubiläum ist ein guter Anlass, diese Aufgabe anzugehen, dabei den großen Wurf als Ziel nie aus den Augen zu verlieren, aber gleichzeitig auch die kleinen Schritte nicht zu vergessen.
Klemens Himpele ist Referent für Hochschule und Forschung beim Hauptvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Sonja Staack ist stellvertretende Vorsitzende von ver.di Berlin. Beide sind Mitglieder im Beirat des BdWi.
Fußnoten
1 Siehe den Beitrag von Sabine Kiel im Forum Wissenschaft Heft, dem dieser Artikel entnommen ist. Zum Scheitern der Reformen vgl. auch: Klemens Himpele / Sonja Staack: »Vorfahrt für Bildung? Vom Scheitern einer zweiten Bildungsreform zum Klassenkampf von oben«, in: Sozialismus 10/2010, 32–36.
2 Zur Forderung nach einem Studienhonorar in der SDS-Denkschrift siehe den Beitrag von Wolfgang Nitsch, zur Studienhonorardebatte heute den Beitrag von Paula Rauch, zu anderen Modellen der Elternunabhängigkeit u. a. den Artikel von Sabine Kiel im Forum Wissenschaft Heft, dem dieser Artikel entnommen ist.
3 Wolfgang Nitsch u.a., 1965: Hochschule in der Demokratie. Kritische Beiträge zur Erbschaft und Reform der deutschen Universität, Berlin, 386
4 Zit. nach: ebd., 394
5 Darauf lief ein Vorschlag der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hinaus (vgl. BDA, 2004: Studienbeiträge und die Reform der Studienfinanzierung. Ein Modellvorschlag, Berlin). Dieses Modell sah vor, dass jeder Studierende 15.000 Euro vom Staat erhalten solle, dafür aber kein Kindergeld, keine kindbezogenen Freibeträge und kein BAföG mehr ausbezahlt werde. Zur Kritik siehe http://www.abs-bund.de/aktuelles/ansicht/15000-euro-geschenkt/.
6 Christoph Heine / Heiko Quast: »Studienentscheidung im Kontext der Studienfinanzierung«, Hochschul-Informationssystem GmbH (HIS): Forum Hochschule 5/2011, Hannover, 45
7 Vgl. Wolfgang Isserstedt u. a., 2010: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2009, 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System, Bonn, 252ff
8 Statistisches Bundesamt 2010: Fachserie 11, Reihe 4.1, Bildung und Kultur. Studierende an Hochschulen. Wintersemester 2009/2010, Wiesbaden
9 Vgl. Statistisches Bundesamt, 2010: Fachserie 11, Reihe 7, Bildung und Kultur. Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) 2009, Wiesbaden, 15; eigene Berechnungen
10 Eigene Berechnungen nach Daten des Bundesministeriums der Finanzen, 2010: Datensammlung zur Steuerpolitik, Ausgabe 2010, Berlin, 62. Unterstellt wurden 1,55 Mio. kindergeldberechtigte Studierende, da einige Studierende aus verschiedenen Gründen (Eltern im Ausland steuerpflichtig, Überschreiten der Altersgrenze, keine Erstausbildung, zu hohe eigene Einkünfte) nicht kindergeldberechtigt sind.
11 Vgl. Statistisches Bundesamt, 2011: Schnellmeldungsergebnisse der Schulstatistik zu Schülerinnen und Schülern der allgemeinbildenden und beruflichen Schulen. Schuljahr 2010/11, Wiesbaden; eigene Berechnung.
12 Ebd.; eigene Berechnung – 1,06 Mio. Schüler/innen lernen in der Sekundarstufe II verschiedener allgemeinbildender Schulformen, 60 Tsd. Schüler/innen an Abendschulen und Kollegs (hier incl. Hauptschul-/mittlerer Schulabschluss).
13 Am 29.05.1990 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der Grundfreibetrag für Kinder nicht besteuert werden darf (nicht disponibles Einkommen). Dies ist der Grund für die Kinderfreibeträge und – in Folge hiervon – für das Kindergeld. Es ist demnach nicht ohne weiteres möglich, diese Mittel zur Finanzierung einer elternunabhängigen Bildungsförderung heranzuziehen.
14 Vgl. Statistisches Bundesamt, 2011: Fachserie 11, Reihe 1, Bildung und Kultur. Allgemeinbildende Schulen. Schuljahr 2009/ 2010, Wiesbaden, sowie Statistisches Bundesamt: Fachserie 11, Reihe 4.1 (s. o.); eigene Berechnungen
15 Vgl. Statistisches Bundesamt, 2011: Fachserie 11, Reihe 1, Bildung und Kultur. Allgemeinbildende Schulen. Schuljahr 2009/ 2010, Wiesbaden, sowie Statistisches Bundesamt: Fachserie 11, Reihe 4.1 (s. o.); eigene Berechnungen
16 Eigene Berechnung; hierbei wurden für die ›teure‹ Lösung alle oben genannten Gruppen einbezogen, für die ›günstige‹ Lösung wurden ausländische Studierende, Schüler/ innen an Kollegs und Abendschulen sowie Auszubildende im Dualen System ausgeklammert.
17 Die Berufsausbildungsbeihilfe wurde hierbei nur für die ›teure‹ Lösung angerechnet, da bei der ›günstigen‹ Lösung betriebliche und außerbetriebliche Auszubildende außen vor bleiben.
18 Eigene Berechnungen auf Grundlage der Daten des Statistisches Bundesamtes zur Ausbildungsförderung nach dem BAföG (s. o.) und der Daten des Bundesinstituts für berufliche Bildung (Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2011). Jährlich fließen 966 Mio. Euro als Zuschussanteil an Studierende und 228 Mio. Euro an Schüler/innen an allgemeinbildenden Schulen. Hiervon entfallen rund 180 Mio. an Schüler/innen an Abendschulen und Kollegs) sowie 599 Mio. an Schüler/innen an beruflichen Schulen. Jährlich werden 579 Mio. Euro als Berufsausbildungsbeihilfe an betriebliche und außerbetriebliche Auszubildende gezahlt. Dabei können die derzeitigen BAföG-Zahlungen an Unter-18-Jährige vernachlässigt werden, sie dürften nach Schätzung anhand des Anteils Unter-18-Jähriger unter den Schüler/innen und Studierenden bei max. 60 Mio. Euro liegen.
19 Eigene Berechnungen nach Daten des Bundesministeriums der Finanzen, s. o. Hierbei wurde unterstellt, dass Frauen bis zum Abschluss des 25. Lebensjahres, Männer bis zum Abschluss des 26. Lebensjahres kindergeldberechtigt sind.
20 Siehe hierzu auch den Beitrag von Jana Schultheiss im Forum Wissenschaft Heft, dem dieser Artikel entnommen ist.
21 Isserstedt u.a. 2010: 201
22 Vgl. GEW-Hauptvorstand, 2011: Richtig gerechnet: Gute Bildung ist finanzierbar. Das steuerpolitische Konzept der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Frankfurt am Main bzw. ver.di, 2008: Konzept Steuergerechtigkeit, Beschluss des ver.di Bundesvorstands vom 08.09.2008