Kaum VeränderungenAuch 20. Sozialerhebung bestätigt Bildungsungerechtigkeit
Von Jens Wernicke
Studis Online: Herr Meyer auf der Heyde, heute hat das Deutsche Studentenwerk (DSW) die Ergebnisse der aktuellen 20. Sozialerhebung veröffentlicht. Was sind die allgemeinen Tendenzen, wie ist es um die soziale Lage der Studierenden im Lande bestellt?
Achim Meyer auf der Heyde ist Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks (DSW), in dem die 58 Studentenwerke in Deutschland zusammengeschlossen sind.
Achim Meyer auf der Heyde: Lassen Sie mich mit dem bildungspolitisch brisantesten Befund beginnen. Auch wenn das Bildungsniveau in der Gesellschaft insgesamt gestiegen ist, auch wenn es immer mehr akademisch Qualifizierte gibt: In Deutschland entscheidet noch immer die soziale Herkunft über Bildungsweg. Eine deutsche Bildungsbiografie besteht aus einer Mehrfachselektion, in deren Ergebnis die Chancen der Kinder von Akademikern und der von Nicht-Akademikern auseinanderdriften. Das zeigt der ‚Bildungstrichter‘ der 20. Sozialerhebung (siehe folgende Grafik): Von 100 Akademiker-Kindern studieren 77; von 100 Kindern aus Familien ohne akademischen Hintergrund schaffen nur 23 den Sprung an eine Hochschule. Die soziale Selektivität beim Hochschulzugang in Deutschland ist erschreckend stabil, und dagegen hat die deutsche Bildungspolitik kein Konzept. Auch die neue Studienstruktur mit Bachelor/Master hat die sozialstrukturelle Bildungsbeteiligung nicht verändert.
20. Sozialerhebung, Bild 3.27
Ein Wort noch zur wirtschaftlichen Lage der Studierenden am Beispiel der Studienfinanzierung. Die eigentlichen Säulen sind nach wie vor der Elternunterhalt, der Nebenjob und das BAföG. 87% der Studierenden werden von ihren Eltern unterstützt, knapp zwei Drittel jobben neben dem Studium, ein Viertel erhält BAföG. Stipendien und Studienkredite spielen nur eine untergeordnete Rolle im System der Studienfinanzierung in Deutschland. 4% erhalten ein Stipendium, 6% greifen auf einen Studienkredit zurück. Die durchschnittliche Höhe der Stipendien beträgt 336 Euro im Monat. Zum Vergleich: Das durchschnittliche studentische Budget beträgt 864 Euro im Monat.
Welches sind die auffälligsten Veränderungen im Vergleich zur letzten Erhebung von vor 3 Jahren?
20. Sozialerhebung
Beauftragt vom Deutschen Studentenwerk (DSW) und gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) führt das HIS-Institut für Hochschulforschung (HIS-HF) die Sozialerhebung alle drei Jahre durch. Die aktuelle 20. Sozialerhebung beruht auf einer Befragung im Sommersemester 2012, an der sich 15.128 Studierenden an 227 Hochschulen beteiligt haben.
Auszüge der Ergebnisse nutzen wir in einigen Artikeln bei uns (Studienkosten insgesamt, Mietkosten in über 50 Hochschulstädten; beide Artikel nun schon mit den aktuellen Werten der 20. Sozialerhebung!).
Das Auffällige ist, dass es wenig wirklich Auffälliges gibt. Die soziale Wirklichkeit der Studierenden ist vielfältig, wie die Studierendenschaft insgesamt auch. Es gibt eben nicht den ‚Durchschnittstudenten‘, sondern man muss differenzieren. Stichwort ‚Diversity‘: Wer unsere bisherigen Sozialerhebungen wahrgenommen hat, wusste schon länger, dass zwei Drittel aller Studierenden jobben, dass es Studierende mit Kind gibt, Studierende mit Behinderung oder chronischer Krankheit, ausländische Studierende und so weiter. Neu haben wir nun auch 3% Studierende im Dualen Studium, 1% Studierende in formalen Teilzeitstudiengängen und 1% berufsbegleitend Studierende. Noch sind dies kleine Minderheiten, aber ich bin überzeugt, die Diversität der Studierendengruppen wird in Zukunft stark zunehmen – und abgebildet werden in künftigen Sozialerhebungen.
Gibt es neue Informationen darüber, welche Auswirkungen zum einen Studiengebühren und zum anderen die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge auf die Situation der Studierenden haben und hatten?
Die Erwerbstätigenquote bei den Studierenden im Erststudium ist gegenüber der 19. Sozialerhebung von 2009 um fünf Prozentpunkte leicht zurückgegangen auf 61%. Wir führen das auf die Abschaffung der Studiengebühren zurück. 2009 gab es sechs Länder, die Studiengebühren erhoben, heute werden oder sind sie in allen Ländern abgeschafft.
Der Anteil laufend erwerbstätiger Studierender aus den Herkunftsgruppen „niedrig“ und „mittel“ ist um 9 bzw. 6 Prozentpunkte gesunken. Genau diese Studierenden haben bisher die Gebühren über Erwerbstätigkeit finanziert. Insofern ziehen wir den Schluss, dass die Abschaffung der Studiengebühren den Druck zur Erwerbstätigkeit gemindert hat. Noch ein Beleg dafür, wie richtig es war und ist, die Gebühren abzuschaffen.
Was Bachelor und Master betrifft: Die ‚Reform der Reform‘ scheint zu greifen. Die Kritik an Bachelor/Master, die die Studierenden mit ihren Protesten in den Jahren 2009 und 2010 artikuliert haben, hat wohl Verbesserungen bewirkt. Das zeigt sich beim studentischen Zeitbudget. Die zeitliche Gesamtbelastung ist gegenüber der 19. Sozialerhebung von 2009 um zwei Stunden gesunken. Damals wendeten die Studierenden für Studium und Nebenjob zusammen 44 Stunden in der Woche auf; heute sind es 42 Stunden. Im Vergleich zu 2009 bewerten die Studierenden ihre zeitliche Belastung deutlich seltener als zu hoch. Hier hat also seit 2009 eine zeitliche Entlastung stattgefunden. Deshalb vermute ich, dass die durch die Studierenden-Proteste angestoßenen Nachbesserungen bei Bachelor/Master langsam greifen. Das ist eine gute Nachricht, aber dennoch gilt: Studieren ist immer noch ein Fulltime-Job. Für mehr als die Hälfte der Studierenden ist die zeitliche Beanspruchung durchs Studium noch immer zu hoch.
Wie hat sich die Lage insbesondere für weibliche, ausländische sowie Studierende aus Arbeiterelternhäusern oder mit Kindern verändert? Und: Gibt es mehr oder weniger „Bildungsaufsteiger“ als wie zuvor?
Bei der 20. Sozialerhebung wurde die Befragungsmethode dahingehend verändert, dass nicht mehr unterschieden wird nach Arbeitern, Selbständigen oder Angestellten, sondern nach der Bildungsherkunft. Die Hälfte der Studierenden hat Eltern, von denen mindestens ein Teil einen Hochschulabschluss hat.
Es zeigt sich einmal mehr: Hochschulbildung ist ein kulturelles Kapital, das von Akademiker-Generation zu Akademiker-Generation weitervererbt wird. Die Hochschulen mögen einigen den Bildungsaufstieg ermöglichen. Noch stärker aber sichern sie den akademischen Status in der nachfolgenden Generation ab. Mit anderen Worten: Die Akademiker reproduzieren sich weitgehend selbst. Die Aufnahme eines Promotionsstudiums ist übrigens auch eine Bildungsschwelle mit sozial selektiver Wirkung: Zwei Drittel der Promovierenden kommen aus Akademikerfamilien. Für Studierende aus hochschulfernen Familien sind nach wie vor die Fachhochschulen besonders attraktiv: Sechs von 10 Studierenden an FHs kommen aus nicht-akademischen Familien.
insgesamt 5% der Studierenden sind Eltern; 58% von ihnen haben Kinder, die jünger als drei Jahre sind. Die Kinderbetreuungsangebote an den Hochschulen müssen weiter ausgebaut werden, zumal Eltern ab August 2013 nun einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz haben.
Zur Situation der rund 260.000 ausländischen Studierenden in Deutschland werden wir Anfang des Jahres 2014 mehr sagen können, wenn der Sonderbericht für diese Studierendengruppe vorliegt.
Sind die aktuellen BAföG-Sätze den Lebensrealitäten und -notwendigkeiten der Studierenden denn noch angemessen? Ich würde ja mutmaßen, die Lebenshaltungskosten sind auch und gerade für Studierende immer mehr gestiegen…?
Ist die Studienfinanzierung unsicher, wirkt sich das u.U. negativ auf das Studium aus.
Das stimmt. Die Studierenden haben im Bundesdurchschnitt monatliche Einnahmen von 864 Euro, und wir gehen davon aus, dass sie davon keine nennenswerten Rücklagen bilden können. Der BAföG-Höchstsatz beträgt aber derzeit 670 Euro. Schon der offizielle Bericht des BAföG-Beirats der Bundesregierung hat im Januar 2012 einen Erhöhungsbedarf der Bedarfssätze um 5% und der Freibeträge um 6% formuliert. Bund und Länder waren aber vor der Bundestagswahl nicht zu einer Erhöhung zu bewegen. Nun muss rasch danach eine BAföG-Novelle auf den Weg gebracht werden.
Das BAföG sollte am besten automatisch an die Preis- und Einkommensentwicklung angepasst werden, das wäre die beste, effizienteste, weil unbürokratische Lösung, weil sie einen Verzicht auf die umständlichen, zeitraubenden und meist zu spät erfolgenden Verhandlungen zwischen Bund und Ländern bringen würde.
Haben Sie auch Daten darüber erhoben, wie viele Studierende mit welchem Aufwand neben dem Studium noch arbeiten gehen und ob bzw. inwiefern das auch ihre Studienleistungen sowie ihre Studiendauer tangiert?
Ja, der Nebenjob ist noch immer, nach dem Elternunterhalt, die zweitwichtigste Quelle der Studienfinanzierung in Deutschland; das Jobben gehört unabdingbar zur sozialen Realität der Studierenden. 61% der Studierenden im Erststudium jobben neben dem Studium; 38% sind laufend erwerbstätig. Der durchschnittliche Zeitaufwand für den Nebenjob beträgt 7,4 Stunden in der Woche - das ist viel, wenn man ein dichtgepacktes Bachelor-Studium bestreiten muss. Mehr als die Hälfte der erwerbstätigen Studierenden benötigt den Verdienst zur Finanzierung des Lebensunterhalts. Dieser Druck, jobben zu müssen, läuft für mich auf einen Zielkonflikt mit den zeitlichen Anforderungen des Studiums hinaus. Von daher sehe ich zumindest das Risiko, dass das Jobben sich negativ aufs Studium auswirken kann.
Und gibt es etwas Neues in Bezug auf den überall konstatierten Mangel an studentischem Wohnraum? Was geben Ihre Daten diesbezüglich her?
Die Quote der Studierenden, die im Wohnheim ihres Studentenwerks leben, ist um zwei Prozentpunkte leicht gesunken auf 10%. Kein Wunder, haben wir doch mit 2,5 Millionen so viele Studierende wie nie zuvor, während wir definitiv einen Angebotsengpass an Wohnheimplätzen haben. Deshalb fordern wir ein gemeinsames Bund-Länder-Programm für 25.000 zusätzliche, preisgünstige Wohnheimplätze. Solche Programme gab es mit viel Erfolg in den 1970er und 1990er Jahren. Heute brauchen wir das dringender denn je.
Wir haben auch einen leichten Rückgang der Mensa-Nutzerinnen und -Nutzer von 85 auf 82%. Nicht, dass die Mensa bei den Studierenden an Beliebtheit eingebüßt hätte. Nein, den Studierenden fehlt schlicht die Zeit, und die Kapazitätsgrenze in vielen Mensen der Studentenwerke ist schlicht überschritten. Es bilden sich täglich lange Schlangen – auch deswegen, weil wegen der gleichen zeitlichen Taktung alle zur gleichen Zeit essen sollen. Die Studentenwerke brauchen dringend Mittel, um ihre Mensakapazitäten erhöhen zu können. Und die Lehrveranstaltungen müssen zeitlich entzerrt werden. Da hoffen wir auf den guten Willen der Hochschulen.
Bund und Länder schaffen über die Hochschulpakte zusätzliche Studienplätze. Nun muss auch die soziale Infrastruktur endlich mitwachsen. Wir appellieren an Bund und Länder, im Rahmen der Hochschulpakte auch Mittel für die soziale Infrastruktur, sprich für die Studentenwerke bereit zu stellen, ohne sie den Hochschulen für den Ausbau der Studienplätze wegzunehmen.
Was täte Ihrer Meinung nach momentan am meisten not? Wenn Sie Studierendenpolitik betrieben: Was täten Sie?
Drei Dinge: Ich würde ersten, analog zu den Hochschulpakt, Bund und Länder dazu bewegen wollen, zusätzliche Mittel für die soziale Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, um endlich dieses strukturelle Defizit der Hochschulpakte zu beheben und vor für zusätzlichen, bezahlbaren Wohnraum zu sorgen.
Zweitens würde ich Bund und Länder auffordern, die automatische Anpassung des BAföG auf den Weg zu bringen und gleichzeitig kritisch prüfen, ob nicht der BAföG-Vollzug, zum Beispiel über eine einheitliche Online-Beantragung, vereinfacht werden könnte.
Drittens würde ich mir einen starken politischen Impuls, eine Art Startschuss, für eine sozial ausgerichtete Hochschulpolitik wünschen, die nicht nur in Kategorien wie Exzellenz und Elite denkt, sondern auch Werte wie Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit nach vorn rückt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Quellen und mehr zum Thema
- Ergebnisse der 20. Sozialerhebung (Downloadmöglichkeit komplett, Kurzfassung, einzelne Kapitel)
- Pressemitteilung des BMBF zur Sozialerhebung – mit Fokus auf positive Ergebnisse, anderes wie der Bildungstrichter wird ausgeblendet
- Statement des DSW-Präsidenten und vier Pressemitteilungen zur Sozialerhebung vom DSW