Föderale MissgeburtBAföG-Antragsstress nicht nur in BaWü
Zum Start der Technik war Theresia Bauer, Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg, voll aus dem Häuschen. "Das neue Verfahren ist schneller und flexibler und es hilft Antragstellern wie Sachbearbeitern gleichermaßen", schwärmte die Grünen-Politikerin auf den Tag genau vor vier Monaten. In einer Pressemitteilung beschwor sie die Vorzüge des Systems: Unter anderem biete es die "Möglichkeit mehrfacher monatlicher Zahlungsabläufe". Früher hätte man unter Umständen bis zu sechs Wochen auf die Auszahlung warten müssen, sofern man seinen Antrag nur einen Tag nach dem Zahlungsablauf einreichte. "Das ist nun vorbei." Außerdem könnte man seinen Bescheid "künftig sofort mit nach Hause nehmen", das spare Zeit und dem Amt das Porto. Das Credo der Ministerin klang durch und durch verheißungsvoll: "Schneller, besser, ohne Stress."
Von wegen schneller
Die BAföG-Ämter haben bei der Verarbeitung der BAföG-Anträge mit vielen Problemen zu kämpfen – aktuell in Baden-Württemberg mit offenbar nicht ausgereifter Software.
Schön wär's, nur ist der Stand der Dinge wohl ein ganz anderer. "Die Umstellung verläuft nicht reibungslos: Statt einer Beschleunigung erleben die Betroffenen nun Verzögerungen", monierte die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di zu Wochenanfang. Man müsse damit rechnen, die beantragte Leistung erst mit einem Verzug von mehreren Monaten zu erhalten. Für ver.di-Landesfachbereichsleiterin Hanna Binder ist das "eine unmögliche Situation für alle Beteiligten". Die Studierenden wüssten nicht, wovon sie leben sollen und die Sachbearbeiter fühlten sich schuldig, "obwohl sie überhaupt keine Verantwortung tragen". Über das Ausmaß der Misere konnte Binder gegenüber Studis Online keine Angaben machen. Das werde sich erst mit der Zeit herausstellen, es gebe jedenfalls "viele potenziell Betroffene".
Beim Ministerium stellt man das in Abrede. Gegenüber dem Vorgängersystem sei das neue tatsächlich schneller und flexibler, bei Neufällen arbeite es "nahezu fehlerfrei", hieß es laut Badischer Zeitung vom Dienstag aus dem Hause Bauer. Fehler seien demnach insbesondere in Fällen mit der Übernahme von Daten aus dem Altverfahren aufgetreten. Studis Online hat beim Ministerium nachgehakt und erhielt am Donnerstag Auskunft von Pressesprecher Jochen Schönmann. Auch er weist die Vorwürfe von ver.di als weitgehend gegenstandslos zurück, schreibt aber immerhin von "Problemen", die nach der Verfahrenseinführung aufgetreten seien. "Im Wesentlichen maßgebend" dafür sei die Umsetzung der neuen BAföG-Verwaltungsvorschrift zum 1. August 2013. "Dies hatte schwierige programmtechnische Umstellungen zur Folge." Abgesehen davon könnten aber weder das Ministerium noch die Studierendenwerke die "Aussagen von ver.di recht nachvollziehen".
Umstellung "äußerst problembehaftet"
In einem Schreiben von ver.di an das Ministerium von Anfang Oktober wird gleich auf eine ganze Reihe an Unzulänglichkeiten hingewiesen. So sei die Umstellung auf die neue EDV "äußerst problembehaftet". Sachbearbeiter hätten berichtet, dass wesentliche Inhalte, die eigentlich eine Vereinfachung bringen sollten, noch nicht enthalten seien. Die Technik laufe so unzureichend, dass man sich gezwungen sehe, "das alte und das neue System nebeneinander zu bedienen". Außerdem wären die BAföG-Anträge unübersichtlicher, "die Abrechnung hierzu fehlt ganz oder ist fehlerhaft dargestellt", was einen "erhöhten Prüfaufwand" bedeute. Und auch mit dem Versprechen "mehrfacher Zahlungsläufe" ist es wohl nicht weit her. Erfolge die Antragsbearbeitung nicht bis Monatsmitte, würden bis zur Auszahlung sechs Wochen ins Land gehen, "obwohl der Bescheid schon an den Antragssteller verschickt wurde". Auch mit dem "Bescheid auf die Hand" ist es nach ver.di-Angaben nichts geworden. In dem Brief bittet die Gewerkschaft um eine Stellungnahme der Ministerin und eine Mitteilung darüber, ob die Probleme angegangen wurden bzw. wann sie behoben sein werden. "Wir haben bis heute keine Antwort erhalten", bedauerte Binder, "so geht man nicht miteinander um".
Unmut gibt es aber nicht nur bei den Beschäftigten auf den BAföG-Ämtern. "Das läuft alles nicht so reibungslos, wie man sich das vorgestellt hat", äußerte sich etwa der Geschäftsführer des Studentenwerks Tübingen-Hohenheim, Oliver Schill, im Gespräch mit Studis Online. Seit der Einführung im Juni gebe es "Schwierigkeiten in verschiedenen Bereichen". Auf Kriegsfuß steht er mit der Technik deshalb aber noch nicht. "Das Programm ist eigentlich gut", es sei nur mit den "üblichen Kinderkrankheiten" versehen. "Das ist nichts Ungewöhnliches, wenn eine neue Software in Betrieb genommen wird." Im Übrigen vertraut Schill darauf, dass das Ministerium "alles notwendige unternimmt, schnellstens für Abhilfe zu sorgen".
Fehler im System
Ob das mal so bald passiert? Schwierigkeiten macht das System nämlich schon länger – sehr viel länger. Wollte man ganz böse sein, würde man die Technologie eine föderale Missgeburt nennen. An den Start gehen sollte die EDV namens "Dialog 21" eigentlich schon 2005, und das nicht nur in Baden-Württemberg, sondern gleich in mehreren Bundesländern. Der Bund hatte vor vielen Jahren entschieden, das Thema BAföG-Beantragung ganz und gar den Ländern zu überlassen. Daraufhin schlossen sich etliche Bundesländer zur Kooperationsgruppe "BAföG 21" zusammen, um im Verbund "Dialog 21" auf die Beine zu stellen. Ursprünglich sollte jedes beteiligte Land ein spezielles Programmteil entwickeln mit dem Ziel, dass daraus am Ende ein einheitliches und möglichst flächendeckend eingesetztes System erwachsen möge.
Weil bekanntlich viele Köche den Brei verderben und es an der nötigen Abstimmung haperte, fuhr man mit dem Vorhaben zunächst vor die Wand. Vor drei Jahren zog man die Konsequenz: Seither sind die Datenzentrale Baden-Württemberg (DZ) und der Staatsbetrieb Sächsische Informatik Dienste (SID) federführend bei der Entwicklung. 2012 wurde "Dialog 21" von SID und DZ einer Gesamtintegration zugeführt und damit vermeintlich startklar gemacht. Zuvor hatte der Bund als praktisch letzte Amtshandlung noch einmal 800.000 Euro in das Projekt gebuttert. Als erstes Bundesland stieg im Mai dieses Jahres Bremen ein, danach folgten im Juni Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, seit Oktober ist auch Sachsen mit dabei.
Bröckeliger Länderverbund
Auch aus Bremen kommen Klagen, beispielsweise von der Leiterin des örtlichen Studentenwerks Nicole Krumdiek. "Ja, die Software ist eine komplexe Materie. In der Praxis werden gewisse Eingaben nicht verarbeitet. Und es passiert, dass gewisse Summen nicht stimmen", sagte sie Studis Online. In Einzelfällen könne es deshalb zu Verzögerungen kommen. Wegen der frühen Einführung sei man aber mittlerweile sehr vertraut mit der EDV, wodurch sich die Probleme beherrschen ließen. Zudem sei die Fehlerbehebung in vollem Gange, damit laufe die Technik "mit jedem Mal weniger holprig". Seitens ver.di ist zu hören, dass Bremer Studierende mit ihren Bescheiden ein Schreiben erhalten, in dem erklärt wird, dass für deren Richtigkeit keine Gewähr gegeben werden könne.
Ursprünglich hatten bis auf Nordrhein-Westfalen (NRW) alle Bundesländer beim "BAföG21"-Verbund mitgemischt, heute sind es nur noch zehn. Baden-Württemberg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen und das Saarland. Brandenburg, Berlin und Hessen sind inzwischen ebenso ausgeschert wie Bayern und Hamburg. Weil das System immer wieder zickte und die Einführung Jahr um Jahr verschleppt wurde, nahmen alle diese Länder Reißaus zur privaten Konkurrenz. Als erstes stellte Bayern 2007 auf das Produkt der Datagroup GmbH um, die anderen folgten nach und nach. Anders als "Dialog 21" steht deren Software im Ruf, zu funktionieren und die technischen Versprechen einzulösen, an denen sich der staatliche Kontrahent bislang die Zähne ausbeißt.
Angst vor der Umstellung
Mit Argwohn verfolgt man die Vorgänge vor allem auch in Niedersachsen. Obwohl am Länderverbund beteiligt, arbeiten die örtlichen BAföG-Ämter gegenwärtig noch mit einem Datagroup-Vorverfahren und dies wohl mit großer Zufriedenheit. Der Umstieg auf "Dialog 21" soll – auch weil man um die Einstiegsprobleme wusste – erst 2014 erfolgen. Sowohl in den Chefetagen der Studentenwerke als auch bei den Beschäftigten würde man lieber am Bewährten festhalten. "Die Mitarbeiter haben große Angst, dass das System eingeführt wird", äußerte sich Brigitte Schütt von ver.di Niedersachsen gegenüber Studis Online. "Die Leute fragen sich schon, warum hier auf Gedeih und Verderb etwas verändert werden soll, was bestens funktioniert." Unter den Beschäftigten herrsche Einigkeit darüber, dass das in Bayern oder Hessen im Vollverfahren genutzte Konkurrenzprodukt "dem Rest der Welt um Jahre voraus" sei, so Schütt.
Nun muss ein Privatunternehmen nicht immer besser arbeiten als eines in öffentlicher Trägerschaft. In diesem Fall deutet allerdings manches darauf hin, als hätte die Politik auf das falsche Pferd gesetzt und Fördergelder in Millionenhöhe verschleudert, obwohl eine tragfähige und – dem Vernehmen nach – kostengünstigere Lösung seit Jahren zu haben wäre. In vielem erinnert der Fall an das Trauerspiel um die Einführung des onlinebasierten Vergabesystems von Studienplätzen, mit dem man dem leidigen Einschreibechaos an den Hochschulen Herr werden will. An der Entwicklung des Dialogorientierten Serviceverfahrens (DoSV) waren auch etliche Akteure – staatliche wie private – beteiligt und dem föderalen Wirrwarr der mannigfachen Zuständigkeiten entsprang am Ende ein veritabler Rohrkrepierer. Ob und wie rasch man einen Studienplatz erhält, ist nach wie vor ein Vabanquespiel und hängt entscheidend davon ab, an welcher Hochschule und in welchem Bundesland man sein Glück versucht.
Mistige Kleinstaaterei
Dasselbe Schicksal blüht nun auch zehntausenden BAföG-Antragsstellern. Während man etwa in Bayern seine Ansprüche meist schnell, unkompliziert und transparent geltend machen kann, ist man andernorts zum Warten und Ärgern verdammt. Nur weil man im falschen Bundesland studiert und die Politik es nicht fertig bringt, Bildung als gesamtstaatliche Aufgabe zu begreifen und der föderalen Kleinstaaterei ein Ende zu bereiten. Vorerst soll den Betroffenen in Baden-Württemberg dadurch geholfen sein, den Mist gesund zu beten. Zumindest rät dazu Ministeriumssprecher Schönmann: Man sei "davon überzeugt, dass sich künftig – und auch bei zunehmender Routine der Beschäftigten im Umgang mit dem neuen Verfahren – die Vorteile besser erkennen lassen." (rw)