Ein Jahr gesetzlicher Mindestlohn„Studentenjobs ordentlich aufgewertet“
Ja, es gibt sie noch die deutsche Wirtschaft. Wer hätte es gedacht? 14 Monate nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns sind sie immer noch da: Daimler, Siemens, ThyssenKrupp und Edeka. Auch der Bäcker von nebenan lebt noch, selbst der Friseur, und wer will, kann abends sogar durch Kneipen und Restaurants ziehen. Hätten die Mahner und Schwarzmaler aus Industrieverbänden, Ökonomenzunft und Medien Recht behalten, müsste es um die ganzen schönen Dinge längst geschehen sein.
Was sollte nicht alles den Bach runter gehen, sobald die Untergrenze von 8,50 Euro bei der Bezahlung wirkt: Massenhaft Arbeitsplätze würden platt gemacht, zahllose Unternehmen in den Ruin getrieben, komplette Branchen verschwinden und Produktionszweige ins Ausland vertrieben. Und was davon ist eingetreten? Nichts. Deutschlands Wirtschaft geht es so gut wie lange nicht mehr, der Export boomt ungebremst, die Arbeitsmarktzahlen eilen von Rekord zu Rekord, seit der Wiedervereinigung gab es niemals so viele Erwerbstätige. Der Mindestlohn ein „Jobkiller“? Reine Panikmache.
Studenten geht`s besser
Ängste wurden seinerzeit auch beim Thema Studentenjobs geschürt. Warnungen kamen vor allem aus der Gastronomie, dem Einzelhandel und Callcenter-Gewerbe. Wenn es studentische Hilfskräfte nur noch für 8,50 Euro und mehr gibt, könnten viele ihren Laden nicht mehr rentabel betreiben und müssten dichtmachen, hieß es. Darunter hätten dann auch die Studierenden selbst zu leiden. Wer abends nicht kellnern gehen könne, dem fehle am Ende das Geld zum Wohnen, Essen – und zum Studieren.
Auch dieses Szenario hat sich nicht bewahrheitet. Zumindest liegen bisher keine Erhebungen vor, die belegten, dass studentische Hilfsjobs in relevanter Größenordnung abhandengekommen wären. Eher verhält es sich umgekehrt: Durch die gesetzliche Lohnuntergrenze geht es Studierenden besser, sie haben es leichter, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Und mithin muss man heute weniger lange arbeiten, um denselben Schnitt wie vor dem 1. Januar 2015 zu machen, als das Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns (MiLoG) in Kraft trat. Dann bleibt auch mehr Zeit zum Studieren.
Fünf Prozent Lohnplus
Nach einer Umfrage des Personaldienstleisters Studitemps mit Unterstützung der Universität Maastricht werden heute über 90 Prozent der Studentenjobs mit 8,50 Euro pro Stunde und mehr vergütet. Demnach hat sich mit Wirkung der neuen Rechtslage das Lohnniveau bei Hochschülerinnen und Hochschülern von im Schnitt 9,34 Euro im Sommersemester 2014 auf 9,86 Euro im Jahr darauf erhöht. Das ist ein kräftiges Plus von mehr als fünf Prozent. Nach Aussage der Autoren sei dies „vor allem auf die drastische Reduzierung der Bezahlung in eben jenem Niedriglohnbereich zurückzuführen, der heute – d. h. nach Einführung des Mindestlohns von 8,50 Euro brutto – rechtlich unzulässig wäre“.
Die ermittelten Zahlen gehen auf zwei bundesweite Befragungen der Studienreihe „Fachkraft 2020“ – zur wirtschaftlichen und allgemeinen Lebenssituation der Studierenden in Deutschland – zurück, an denen 2014 und 2015 jeweils im September in der Summe etwa 50.000 Studierende teilgenommen haben. Dabei wurden jene Fälle nicht berücksichtigt, die von der Mindestlohnregelung ausgenommen sind. Gemäß Gesetz gilt keine Lohnuntergrenze für laut Studienordnung verpflichtende Praktika, für Praktika von bis zu drei Monaten zur Orientierung vor dem und begleitend zum Studium sowie für ehrenamtliche Tätigkeiten. Für ein länger als drei Monate andauerndes Praktikum (zur Orientierung oder studienbegleitend) wird der Mindestlohn dagegen vom ersten Tag an fällig.
Deutlich weniger Niedriglöhner
Wie es aussieht, halten sich die Arbeitgeber zum überwiegenden Teil an die neuen Vorgaben. Laut Studie hat sich der Anteil der Niedriglöhner in allen 16 Bundesländern „spürbar, teils drastisch verringert“. Die größten Sprünge hätten Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen hingelegt, wo Studierende im Sommersemester 2014 noch in über 40 Prozent der Fälle unter Mindestlohn gejobbt hätten. Im Vorjahr lag die Quote der „Ausreißer nach unten“ in allen drei Ländern jeweils nur noch um den Dreh von zehn Prozent.
Die besten Werte mit zum Teil deutlich über 90 Prozent „Gesetzestreue“ können das Saarland (96,4 Prozent), Hamburg (95,6) sowie Bayern, Brandenburg, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz (jeweils circa 93 Prozent) vorweisen. Schlusslicht unter den Westländern ist Baden-Württemberg mit 89,5 Prozent und in Ostdeutschland Sachsen mit 86,5 Prozent. Aber auch hier erscheint die Verbesserung um über 25 Prozentpunkte binnen nur eines Jahres ziemlich beachtlich.
Auch Praktikanten profitieren
Zu ähnlich positiven Befunden ist zuletzt auch eine Erhebung der Universität Magdeburg im Auftrag der Jobbörse Absolventa und der Personalberatungsfirma Clevis gekommen. Dabei wurde jedoch lediglich die Situation von Praktikanten beleuchtet, in erster Linie die von Studierenden aus den Wirtschafts- und Ingenieurwissenschaften. Die Vergütung hat demnach im Vorjahr im Schnitt um 10,6 Prozent zugelegt, auf rund 950 Euro brutto. Nimmt man nur die Stellen, in denen der Mindestlohn verpflichtend ist, wurden im Mittel sogar 1.240 Euro gezahlt.
Die schöne Entwicklung hat freilich eine Kehrseite: Es gibt immer noch viele Fälle, in denen sich Studierende unter Wert verkaufen (müssen). Laut Studitemps beträgt „nach konservativen Berechnungen“ die Quote der Jobber, die weniger als 8,50 Euro verdienen, bundesweit 8,4 Prozent (nach 22,4 Prozent 2014). Laut Deutschem Studentenwerk (DSW) arbeiten zwei Drittel der Hochschüler neben dem Studium. Bei aktuell 2,8 Millionen Studierenden müsste sich die Zahl der „Zukurzgekommenen“ somit auf weit über 150.000 belaufen. So lautet auch die Einschätzung der Frankfurter Rundschau (FR).
Frauen benachteiligt
Die Analyse zeigt ferner, dass männliche Studierende deutlich seltener unter Mindestlohn bezahlt werden als weibliche. So blieben im Vorjahr im Bundesschnitt 9,6 Prozent der Hochschülerinnen außen vor (23,7 Prozent 2014), während es bei den Männern 6,7 Prozent waren (18,6 Prozent 2014). Das heißt: Die Benachteiligung des weiblichen Geschlechts auf dem Arbeitsmarkt – erkennbar durch schlechtere Bezahlung, schlechtere Jobs und schlechtere Aufstiegschancen – macht sich bereits bei den studentischen Nebenjobs bemerkbar.
Kritisch sehen die Studienautoren, dass in fünf Bundesländern weiterhin mindestens jeder zehnte mit einem Verdienst unter Mindestlohn abgespeist wird. Aber nicht nur dort bestehe Nachholbedarf. „Nimmt man einen kritischen Schwellenanteil von fünf Prozent zum Maßstab (…), wären gegenwärtig lediglich Hamburg (4,4 Prozent) und das Saarland (3,6 Prozent) davon freigesprochen, beim Mindestlohn weiter nachbessern zu müssen“. Ihr Fazit fällt dann auch zwiespältig aus: „Ja, der Mindestlohn hat den studentischen Jobmarkt finanziell ordentlich aufgewertet – sehr ordentlich sogar. Und nein, der Mindestlohn hat noch nicht Einzug in alle studentischen Portemonnaies erhalten.“ So blieben auch gut ein Jahr nach dessen Einführung „gewisse Zweifel an der flächendeckenden Umsetzung der Gesetzesvorgabe am studentischen Jobmarkt“.
DGB beklagt Schlupflöcher
Nachbesserungen wünscht man sich auch beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Florian Haggenmiller ist Bundesjugendsekretär der DGB Jugend. Wie er gegenüber Studis Online sagte, gebe es „ein Grundproblem“, das bei weitem nicht nur Studierende betreffe. „Durch die Ausnahmen für unter 18jährige und verschiedene Arten von Praktika entsteht in der Praxis Rechtsunsicherheit, die von Unternehmen auch zur Umgehung des Mindestlohns genutzt wird.“ Insbesondere bei kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen sei die Missbrauchsgefahr „besonders hoch“.
Zu den gängigen Verstößen gehörten zum Beispiel die Anrechnung von Sachleistungen auf den Lohn (Getränkegutscheine für Kinomitarbeiter), Diskrepanzen zwischen tatsächlich geleisteter und erfasster Arbeitszeit, die Mitverrechnung von Trinkgeldern in der Gastronomie oder Kettenpraktikumsverträge. „Überall da, wo Ausnahmen geschaffen wurden, bemerken wir eine kreative Auslegung der Arbeitgeber“, monierte Haggenmiller.
Missbrauch anzeigen
Hinweise auf Tricksereien liefert desgleichen besagte Studie der Uni Magdeburg. Demnach passten „viele Arbeitgeber ihre Praktika offenbar auch den neuen Bedingungen an und setzen verstärkt auf Arbeitsverhältnisse, die vom Mindestlohngesetz ausgenommen sind“. Praktika haben sich demnach im Mittel merklich verkürzt. Gerade die Anzahl der dreimonatigen Praktika, die nicht der Mindestlohnregelung unterliegen, hätten sich innerhalb des vergangenen Jahres mal eben verdoppelt. Der Anteil an der Gesamtzahl der Praktika betrage nun 21 Prozent nach 11 Prozent im Jahr 2014.
Für Gewerkschafter Haggenmiller gilt: „Wer seine Rechte nicht kennt, fordert sie auch nicht ein. Hier sind Aufklärung und Information gefragt.“ Wer Verstöße gegen das neue Mindestlohngesetz oder gegen die Branchenmindestlöhne feststelle, könne sich – auch anonym – bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls melden. Ansprüche aus dem MiLoG ließen sich drei Jahre rückwirkend einklagen. Leider müsse dies jeder Betroffene individuell für sich tun, solange noch kein Verbandsklagerecht bestehe, um Missbrauch kollektiv zu bekämpfen.
Haggenmillers Appell an die Politik: „Ausnahmen weg, Kontrollen verstärken, Verbandsklagerecht einführen, Generalunternehmerhaftung verschärfen, junge Beschäftigte über ihre Rechte aufklären.“ Kommt alles so, sollte die Deutschland-AG auch das überstehen. (rw)