Neue Untersuchung zu StudierendenausgabenArm mit BAföG
Die meisten Studis behelfen sich anders – das BAföG allein jedenfalls würde zum Leben praktisch nicht ausreichen.
Wobei von „rechnen“ eigentlich keine Rede sein kann. Treffender wäre „schätzen“ oder vielmehr: „verschätzen“. Seit es die Unterstützung für Schüler und Studierende nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) gibt, wurde niemals anhand einer empirisch fundierten Datenanalyse ermittelt, was die „Geförderten“ wirklich zum Leben brauchen. Als Grundlage dienten stattdessen vage Kostenaufstellungen, Erwägungen diverser Arbeitsgruppen und ein fiktiver Warenkorb, der mit den rigider gewordenen Sparvorgaben der Politik mehr wie ein Einkaufsnetz anmutet. Das Ding wirkt auch dann voll, wenn kaum etwas drin ist.
Der Zustand selbstauferlegter Unwissenheit währt nun bereits 36 Jahre lang. Die nach 1971 erfolgten BAföG-Nachschläge orientierten sich deshalb vornehmlich an der allgemeinen Preisentwicklung. Als einigermaßen realitätsfest hätte sich dieser Ansatz rückblickend aber nur erwiesen, wenn schon zur BAföG-Geburtsstunde die realen Bedürfnisse wissenschaftlich dargestellt und kalkuliert worden wären. Denn wo zum Beispiel eine Zahnbürste nicht zum studentischen Bedarf zählt, gibt es dafür auch keinen Inflationsausgleich. So kam es, dass sich die von Beginn an bestehende „Unterdeckung“ über Jahrzehnte bis heute fortgeschrieben hat. Das hat nicht nur dafür gesorgt, dass sich etliche Studierenden- und Schülergenerationen für die Zeit ihrer Ausbildung mehr schlecht als recht haben durchs Leben boxen müssen, sondern dass auch Hundertausende eigentlich Förderbedürftige die formale Förderfähigkeit verfehlten.
Kaum Geld zum Essen
Das Deutsche Studentenwerk (DSW) will damit Schluss machen. In seinem Auftrag hat das Berliner Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) in der Vorwoche die Studie „Ermittlung der Lebenshaltungskosten von Studierenden“ vorgelegt. Die Brisanz der Befunde beleuchtet etwa der folgende Satz, weil er nahelegt, dass Studierende in ihrer finanziellen Not mitunter kaum genug zum Essen haben: „In einigen Fällen stellt sich die Frage, ob damit wirklich eine physiologisch ausreichende Nahrungsmittelzufuhr gewährleistet werden kann.“ Weil insbesondere die Ausgaben für Wohnen und Gesundheit weit über den geltenden BAföG-Pauschalen liegen, würden für Lebensmittel „zum Teil Beträge verausgabt, die beträchtlich unterhalb der Größenordnung liegen, die eine ausgewogene Ernährung ermöglichen“, heißt es in der Untersuchung.
Das FiBS hat als Datengrundlage für seine Analyse die 20. Sozialerhebung des DSW aus dem Jahr 2012, die amtliche Einkommens- und Verbrauchsstatistik (EVS) des Statistischen Bundesamtes 2013 sowie das Sozioökonomische Panel (SOEP) herangezogen. Die jüngste BAföG-Erhöhung wurde dabei ebenso wenig berücksichtigt wie die noch nicht veröffentlichten Ergebnisse der 21. Sozialerhebung, die im Sommer 2016 durchgeführt wurde. Zuletzt hatte die Bundesregierung zum Wintersemester 2016 die Bedarfssätze und Elternfreibeträge um sieben Prozent erhöht. Dadurch stieg die Höchstförderung für Studierende von monatlich 670 auf 735 Euro.
1.000 Euro reichen nicht
Die Nachbesserungen traten nach einer Durststrecke von sechs Jahren ohne jede BAföG-Aufstockung in Kraft. Damit kam die Reform aus Sicht von Kritikern nicht nur viel zu spät, weil ein bis zwei Studierendengenerationen in der Zwischenzeit leerausgegangen waren. Die Zugabe fing außerdem nicht einmal die seit 2010 aufgelaufene Preissteigerung auf, womit Studierende heute ein faktisch geringeres Auskommen haben als noch vor sieben Jahren. Der zu Jahresanfang durch die Jugendorganisation des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) vorgelegte „Alternative BAföG-Bericht“ hat den Schwund zurückgerechnet. Demnach hinken die Bedarfssätze 2016 um 6,4 Prozentpunkte hinter der Entwicklung der Lebenshaltungskosten seit 1971 hinterher. Verglichen mit 2010 sei die Förderquote – im Verhältnis zur Gesamtzahl der Studierenden – von 15 auf zwölf Prozent im Jahr 2015 eingebrochen.
Nimmt man die vom FiBS präsentierten Zahlen, erscheint die DGB-Kritik geradezu milde. Demnach betrugen im Erhebungsjahr die monatlichen Kosten für Miete, Essen, Bücher, Kommunikation, Gesundheit, Mobilität und Lernmittel bzw. Bildung im Schnitt 920 bis 950 Euro. Bei Mitberücksichtigung der „Ausgaben für Körperpflege, Innenausstattung von Wohnungen sowie Beherbergung und Gaststätte“ kämen noch einmal „gut 100 Euro“ dazu. Im Mittel übersteigen die Ausgaben damit sogar die 1.000-Euro-Schwelle. Da sich die Zahlen auf die Jahre 2012/13 beziehen, dürfte der Bedarf mittlerweile weiter gestiegen sein.
Kostentreiber Wohnen
Positionen wie etwa Körperpflege, Wohnungseinrichtung und Versicherungen/Vorsorge fehlen auch bei der durch die Bundesregierung geförderten Sozialerhebung des DSW, auf deren Grundlage der Verband bisher seine Forderungen an die Politik formuliert hatte. Auch zeige sich, dass die befragten Studierenden die Ausgaben „ohne Haushaltsbuch nicht in allen Posten zielsicher angeben können“, erläuterte DSW-Generalsekretär Achim Meyer auf der Heyde auf Anfrage von Studis Online. „Weil die Studie auf eine breitere Datenbasis abhebt, ist das Ergebnis differenzierter als mit der Sozialerhebung allein.“
In einer Pressemitteilung erklärte FiBS-Direktor Dieter Dohmen: „Die Ergebnisse zeigen, dass Studierende durchweg deutlich höhere Ausgaben haben, als bisher angenommen.“ Die Höhe der Gesamtausgaben werde dabei durch viele Faktoren beeinflusst, wie etwa die Wohnform, die Existenz von Kindern oder die Erwerbstätigkeit der Studierenden. Sie stiegen allein schon mit dem Alter der Studierenden deutlich an. Zwar erhöhten sich die Ausgabenwerte für alle Kategorien, doch erwiesen sich Miet- und Gesundheitskosten als die „stärksten Kostentreiber“. So müssten jene, die alleine wohnen, sehr viel tiefer in die Tasche greifen als solche, die in einem staatlichen Studentenwohnheim leben.
Teure Gesundheit
In Großstädten wie München, Hamburg und Berlin muss man für ein WG-Zimmer bisweilen 500 Euro und mehr hinblättern. DSW-Präsident Dieter Timmermann bezifferte den Mehrbedarf allein bei den Wohnungskosten auf 76 Euro. Derzeit beträgt die BAföG-Wohnpauschale 250 Euro. Bund und Länder müssten dringend in Ausbau und Sanierung von Wohnheimen investieren, um die Wohnkosten für Studenten zu senken oder auf bezahlbarem Niveau zu halten, so Timmermann.
Die vom FiBS ermittelte Unterdeckung beim BAföG-Grundbedarf liegt zwischen 70 und 75 Euro. Eine Förderlücke sehen die Studienautoren auch bei den Zuschlägen für die Kranken- und Pflegeversicherung, vor allem für über die 30jährigen. Die Sätze orientieren sich ausschließlich an der studentischen Krankenversicherung – 86 Euro monatlich für Studierende, die älter als 25 Jahre sind –, aber nicht an den viel höheren Krankenversicherungsbeiträgen für diejenigen jenseits der 30. Sie müssen dafür mehr als 150 Euro im Monat aufwenden.
„Verdeckte Armut“
Insbesondere im unteren Einkommensbereich zeigt sich nach der Untersuchung, „dass weder das BAföG noch die Eltern alleine in der Lage sind, eine ausreichende finanzielle Grundlage zur Finanzierung des Studiums zu ermöglichen. Erst wenn beide Quellen miteinander kombiniert oder durch Erwerbstätigkeit ergänzt werden, kommen die Studierenden auf ein einigermaßen akzeptables Niveau.“ Viele hätten sich folglich „mit Jobben eingerichtet“, womit sich dann oft die Studiendauer verlängere.
„Persönlich überrascht“ äußerte sich Dohmen darüber, „dass ein relativ großer Teil der Studierenden mit sehr niedrigen Einnahmen zurechtkommen muss. Hier dürfte vielfach von verdeckter Armut auszugehen sein.“ Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts werden zur Festsetzung des studentischen Bedarfs lediglich die 15 Prozent der Studierenden am unteren Einkommensspektrum herangezogen. Laut Studie liegen deren Ausgaben „durchgängig deutlich, d. h. in der Regel um ein Viertel bis ein Drittel, in einzelnen Fällen aber bis zu 60 Prozent unter den Durchschnittsbeträgen der jeweiligen Teilpopulation und in der Regel auch unterhalb des BAföG-Höchstsatzes sowie des sozio-kulturellen Existenzminimums“ (Hartz-IV-Satz).
Verzicht drückt Bedarfssätze
Das heißt: Nach geltendem Regelwerk ermittelt sich der Förderbedarf unter Bezugnahme auf einen Kreis von Personen, die sich nach Lage der Dinge in mitunter existenziellen Notlagen befinden. Das wirft für die Autoren die Frage auf, „ob es sich dabei um Studierende handelt, die keinen rechtlichen Anspruch auf BAföG haben, oder ob sie ‚freiwillig‘ auf diesen Anspruch verzichten“. So machten „nach vorliegenden Studien (…) 40 bis 60 Prozent der dem Grunde nach förderberechtigten Studierenden ihre Ansprüche nicht geltend“. Die plausibelste Erklärung dafür dürfte die Angst vor Verschuldung sein.
Daraus folgt aber weiterhin: Die BAföG-Bedarfssätze dezimieren sich in einem beträchtlichen Umfang durch die verbreitete Nichtwahrnehmung des Rechts auf BAföG-Förderung. Oder andersherum: Würden alle Förderfähigen ihre Ansprüche geltend machen, hätten alle BAföG-Empfänger mehr Geld zum Leben. Entsprechend appellierte DSW-Generalsekretär Achim Meyer auf der Heyde an alle Betroffenen, zur Verbesserung ihrer finanziellen Situation BAföG-Anträge zu stellen – zumal erst fünf Jahre nach Förderende maximal 10.000 Euro in kleinen Raten zurückzuzahlen wären.
Kein Pieps von Wanka
Meyer auf der Heyde bekräftigte die Forderung seines Verbands „dass die Berechnung der Bedarfssatzes auf der Basis empirisch sauberer Verfahren und nicht nach politisch-normativer Setzung laufen muss“. Seit 2016 hätten Schüler und Studierende, die bei ihren Eltern leben einen Aufstockungsanspruch nach dem Sozialgesetzbuch II. „Damit gibt der Gesetzgeber zu, dass BAföG-Bedarfssätze allein nicht bedarfsdeckend sind. Und das kritisieren wir, und wir zeigen nun einer jeden Bundesregierung mit unserer Studie, wie man es eigentlich sauber berechnen müsste.“
Zugleich verlangte der DSW-Generalsekretär eine „Verstetigung der Anpassungen von Freibeträgen und Bedarfssätzen und einen Krankenversicherungszuschlag für Studierende, die älter als 30 Jahre alt sind“. Und mit Blick auf die anstehende Bundestagswahl sagte er: „Die Umsetzung ist überfällig und sollte eine erste Maßnahme der neuen Bundesregierung sein.“ Der Funktionär ganz entschieden: „Diese neuen Zahlen kann keine Bundesregierung mehr ignorieren.“ Ob er sich da mal nicht täuscht? Von der zuständigen Ministerin Johanna Wanka (CDU) war zu der Veröffentlichung bis dato kein Pieps zu hören. (rw)
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