Neuer Schwung oder alter Trott?Große Koalition und Hochschulpolitik
Schwarz-gelb-grün konnte sich nicht einigen, nun hat sich doch wieder schwarz-rot auf eine Koalition geeinigt.
Studis Online: Die alte und wieder neue Bundesregierung aus Union und SPD ist seit Mittwoch der Vorwoche im Amt. Ist Ihnen angesichts von vier weiteren Jahren Großer Koalition eher bange oder haben Sie Hoffnungen auf eine bildungspolitische Trendwende?
Andreas Keller: Das Bildungskapitel des Koalitionsvertrags enthält durchaus einige positive Ansätze: die weitere Lockerung des Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern im Bildungsbereich, der Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung an Grundschulen, die in Aussicht gestellte Abschaffung der Kitagebühren, ein Berufsbildungspakt, eine nationale Weiterbildungsstrategie oder die Verstetigung des Hochschulpakts. Das alles sind kleine Schritte in die richtige Richtung – so denn Union und SPD sie wirklich umsetzen wollen und können. Ein Blick in das Finanzkapitel des Vertrages nährt daran allerdings Zweifel.
Zwischen ihren und den Vorstellungen der Regierung klafft eine gewaltige Lücke. Für den Bereich Bildung und Forschung wollen die Koalitionäre rund elf Milliarden Euro mehr in den kommenden vier Jahren mobilisieren. Ihre Gewerkschaft hält dagegen 40 Milliarden Euro jährlich für nötig …
Tatsächlich kommt eine von der GEW-nahen Max-Traeger-Stiftung geförderte Untersuchung des Kasseler Bildungsforschers Roman Jaich auf einen jährlichen Fehlbetrag von über 55 Milliarden Euro. Dieser Betrag spiegelt nahezu exakt die Unterfinanzierung des Bildungswesens in Deutschland wider, die die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung seit Jahren im OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick“ zu Tage fördert. In erster Linie ist freilich nicht der Bund, sondern sind die Länder und Kommunen gefragt. Diese sind dazu aber häufig nicht in der Lage – wegen einer verfehlten Steuer- und Finanzpolitik. Leider lässt der Koalitionsvertrag in dieser Frage nicht den Hauch eines Kurswechsels erkennen.
Wie hoch müssten nach besagter Studie von Roman Jaich die Mehrausgaben ausfallen, um den jahrzehntelangen Sanierungsstau bei den Hochschulen zu beheben und die Unis fit für Gegenwart und Zukunft zu machen?
Allein für die dringendsten Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität von Lehre und Studium – günstigere Betreuungsrelationen zwischen Lehrenden und Studierenden und eine bessere Ausstattung von Hörsälen und Laboren – wären nach Jaichs Berechnungen rund sechs Milliarden Euro jährlich mehr erforderlich.
Und was entnehmen Sie zu all aus dem Koalitionsvertrag? Dort ist zwar von einer Verstetigung des Hochschulpakts die Rede, aber nicht davon, was man sich das kosten lassen will.
Der Koalitionsvertrag enthält zwar die Vereinbarung von Union und SPD, wonach der 2020 auslaufende Hochschulpakt verstetigt werden soll. Das ist ein wichtiges Signal für die Hochschulen, die auf die Finanzierung der zusätzlichen Studienanfängerplätze auf Dauer angewiesen sind. „Verstetigung“ heißt aber offensichtlich auch, dass kein Aufwuchs geplant ist. Dabei hat die Hochschulrektorenkonferenz wiederholt vorgerechnet, dass die Zuweisungen aus dem Hochschulpakt nicht kostendeckend sind. Im Koalitionsvertrag sind bislang gerade einmal 600 Millionen Euro für die Verlängerung des Hochschulpakts eingestellt – ein Tropfen auf den heißen Stein. Union und SPD müssen hier dringend nachlegen.
Sie sprachen es an: Der Hochschulpakt von Bund und Ländern war von Beginn an als ein Notprogramm konzipiert, später auch eine Reaktion darauf, dass die Hochschulen wegen der plötzlichen Abschaffung der Wehrpflicht und doppelter Abiturjahrgänge förmlich überrannt wurden. Die mit ihm seit 2007 zusätzlich geschaffenen Studienplätze sind allesamt mit weniger Mitteln unterfüttert als die bis dahin aus den Grundmitteln finanzierten „Normalstudienplätze“. Läuft die Fortsetzung des Paktes deshalb nicht eigentlich auf einen fortschreitenden Substanzverlust hinaus?
Unser Interviewpartner Andreas Keller ist stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und im Hauptvorstand verantwortlich für den Organisationsbereich Hochschule und Forschung.
Das genau ist das Problem. Der Hochschulpakt müsste mindestens in dem Ausmaß ausgebaut werden, wie es die Große Koalition für den Pakt für Forschung und Innovation PFI ganz selbstverständlich angekündigt hat. Der PFI soll Jahr für Jahr um mindestens drei Prozent aufgestockt werden. Davon profitieren nicht nur die außeruniversitären Forschungseinrichtungen, deren Budgets ohnehin seit Jahren kräftiger wachsen als die Hochschulhaushalte, sondern auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), bei der die Hochschulen wiederum ihre Drittmittel einwerben. Während also die Grundhaushalte der Hochschulen stagnieren und in vielen Ländern sogar handfesten Kürzungen unterliegen, werden Jahr für Jahr mehr Drittmittel ins System gespült, die die Hochschulen wieder in Zeitverträge für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ummünzen.
Damit nicht genug: Der Hochschulpakt soll laut Koalitionsvereinbarung künftig wettbewerbsförmig ausgestaltet werden. Man will so etwa Hochschulen, deren Absolventinnen und Absolventen gute Berufsperspektiven haben, durch höhere Zuweisungen belohnen, andere bestrafen. Wenn es so kommt, wird der Hochschulpakt zu einem Wettbewerbsprogramm neben dem Qualitätspakt Lehre, der Qualitätsoffensive Lehrerbildung, der Exzellenzstrategie und wie die Sonderprogramme alle heißen. Die Hochschulfinanzierung braucht aber nicht mehr Wettbewerb, sondern mehr Verlässlichkeit und Kontinuität.
Wie der Hochschulpakt soll auch die „Exzellenzstrategie“, vormals „Exzellenzinitiative“, mit der an ausgewählten Standorten gezielt „Spitzenforschung“ gefördert wird, auf Dauer gestellt werden. Wobei der Beschluss dazu schon früher gefasst wurde. Auch Ihre Gewerkschaft sieht darin ein Instrument, die Hochschullandschaft noch stärker in Gewinner und Verlierer aufzuspalten. Müsste es damit nicht ein Ende haben?
Die Große Koalition geht noch einen Schritt weiter: In ihrem Koalitionsvertrag erklären Union und SPD Exzellenz zur „Leitidee“ in der Wissenschaftspolitik. Das ist bemerkenswert: Nicht mehr Chancengleichheit beim Hochschulzugang und im Studium, sondern der Aufbau von Eliteuniversitäten, die Förderung von Wettbewerb und die Hierarchisierung der Hochschullandschaft wird zur wissenschaftspolitischen Richtschnur der Großen Koalition. Das ist die Bankrotterklärung sozialdemokratischer Hochschulpolitik und ein falscher Ansatz. Der Vorzug der deutschen Hochschullandschaft im Vergleich mit anderen Systemen bestand bisher gerade darin, dass bundesweit hohe Qualitätsstandards gelten, egal ob man seinen Abschluss in Dresden, Aachen, Osnabrück oder München gemacht hat. Die Bundesregierung sollte sich auf diese Stärke besinnen und sie weiter schärfen, statt sie leichtfertig zu verspielen und von einem deutschen Harvard zu träumen.
Zur Bundesausbildungsförderung (BAföG): Die neue Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) will erst die Ursachen erörtern, warum die Gefördertenzahlen zuletzt so massiv eingebrochen sind, um danach über eine Reform nachzudenken. Wie geduldig sind Sie?
Dass dringender Handlungsbedarf besteht, ist nicht nur eine Position der GEW. Unlängst hat der offizielle Beirat für Ausbildungsförderung beim Bundesbildungsministerium eine „deutliche und zügige“ BAföG-Erhöhung gefordert. Nur noch 15 Prozent der Studierenden beziehen überhaupt Leistungen. Wenn nun die Ministerin erst einmal weiter erörtern und nachdenken will, heißt das nichts anderes, als einem weiteren Fall der Förderquoten tatenlos zuzusehen. Die Fakten liegen aber mit dem jüngsten BAföG-Bericht der Bundesregierung und der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks längst auf dem Tisch. Die BAföG-Reform gehört ins 100-Tage-Programm der neuen Regierung! Das heißt aber auch: Die eine Milliarde Euro, die Union und SPD in ihren Koalitionsvertrag geschrieben haben, wird nicht ausreichen.
Aus Regierungssicht wäre das ein ziemlich „überstürzter“ Ansatz. Zwischen der letzten BAföG-Erhöhung zum Wintersemester 2016/17 und der vorangegangen gingen sechs lange Jahre ins Land …
Die Lebenshaltungskosten der Studierenden lassen sich ja leider keine sechs Jahre Zeit, bis sie wieder einen Sprung machen, sondern sie steigen Jahr für Jahr kräftig an, ganz besonders deutlich im Bereich studentisches Wohnen. Die GEW macht sich daher dafür stark, dass die BAföG-Fördersätze und Freibeträge regelmäßig automatisch angepasst werden, wie das auch bei der Anpassung der Diäten für die Bundestagsabgeordneten völlig reibungslos möglich ist.
Auffällig ist aber auch, dass immer mehr junge Menschen auf eine Förderung verzichten, die ihnen eigentlich zusteht. Wie erklären Sie sich das und wie ließe sich dem begegnen?
Im Kern hat das damit zu tun, dass das BAföG zwar eine Sozialleistung ist, aber zur Hälfte nur als zurückzuzahlendes Darlehen ausgezahlt wird. Die Aussicht, nach einem langen Studium erst mal mit einem Schuldenberg ins Erwerbsleben zu starten, schreckt gerade junge Menschen aus den sogenannten bildungsfernen Schichten davon ab, einen BAföG-Antrag zu stellen. Meine Gewerkschaft hält daher an ihrer Forderung fest, das BAföG endlich wieder auf einen Vollzuschuss umzustellen. Außerdem muss das Instrument für Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen ab Klasse elf wieder eingeführt werden. Ob junge Menschen nach der mittleren Reife ihr erstes verdientes Geld nach Hause bringen oder bis zum Abitur weiter unterstützt werden müssen, ist in vielen Familien mit geringen Einkommen eine existenzielle Frage.
Ex-Bildungsministerin Johanna Wanka wie auch ihre Vorgängerin Annette Schavan (beide CDU) stehen zusammen für 13 Jahre BAföG-Abrissarbeit. Ist das überhaupt wieder wettzumachen oder ist eine echte Renaissance beim BAföG politisch gar nicht mehr gewollt?
Tatsächlich hat die frühere Bildungsministerin Annette Schavan vergeblich versucht, eine Debatte über die Ablösung des BAföG durch Stipendienmodelle anzuzetteln. Abgesehen von dem Ladenhüter Deutschlandstipendium ist sie damit aber letztlich auf der ganzen Linie gescheitet. Es gibt nach wie vor einen politischen Konsens, dass wir ein BAföG mit einem einklagbaren Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung brauchen. Auch wenn die BAföG-Erhöhungen regelmäßig zu lange auf sich warten lassen und eine umfassende Erneuerung bisher ausgeblieben ist, ist das ein wichtiger bildungs- und sozialpolitischer Erfolg. Das gilt übrigens auch dafür, dass es gelungen ist, die Debatte um die Einführung von allgemeinen Studiengebühren zum Erstummen zu bringen.
Wissen Sie, wie es die neue Amtsinhaberin Karliczek mit dem Thema Studienfinanzierung hält? Im Koalitionsvertrag heißt es ja: „Wir wollen die Stipendienkultur und Begabtenförderwerke in Deutschland weiter stärken. Die Schüler- und Leistungswettbewerbe wollen wir ausbauen.“ Wie hört sich das für Sie an?
Das ist der Preis, den die SPD dafür bezahlen musste, dass sich die Koalition auf einen Ausbau des BAföG verständigt hat. Es ist in den nächsten vier Jahren eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse, ob es sich beim Bekenntnis zu Stipendienkultur und Leistungswettbewerben um ein Placebo für konservative Verfechter einer elitären Bildungspolitik handelt oder um ein bildungspolitisches Programm, dessen Umsetzung eingefordert wird. Leider wissen wir nicht, wie die neue Bildungsministerin dazu steht. Mir zumindest sind keine Äußerungen von ihr dazu bekannt.
Was halten Sie überhaupt von der Berufung Karliczeks? Die Frau ist ja durch und durch fachfremd, woraus sie ja nicht einmal einen Hehl macht ...
Es scheint in der Politik einen Trend zum fachfremden Quereinstieg zu geben. Wir sollten Frau Karliczek eine Chance geben. Vielleicht ist sie in der Lage, als sakrosankt geltende Gewissheiten gegen den Strich zu bürsten.
Immerhin hat die Groko zuletzt etwas gegen den grassierenden Befristungswahn an den Hochschulen unternommen – zumindest auf dem Papier. Wie lautet Ihre Bilanz nach zwei Jahren, in denen das novellierte Wissenschaftszeitvertragsgesetz in Kraft ist?
Die 2016 in Kraft getretene Novellierung ist ein Teilerfolg der GEW-Kampagne für den Traumjob Wissenschaft. Arbeitsverträge dürfen nur noch befristet werden, wenn sie drittmittelfinanziert sind oder der Qualifizierung dienen. Die Laufzeit von Zeitverträgen muss der Qualifizierung angemessen sein bzw. der Dauer des Drittmittelprojekts entsprechen. Leider hat der Gesetzgeber bei der Novellierung des Gesetzes mit unbestimmten Rechtsbegriffen gearbeitet. Was ist eigentlich eine Qualifizierung? Wann ist eine Vertragsdauer angemessen? Das ist nicht konkretisiert worden. Ob das Gesetz also wirklich wirkt und für mehr Dauerstellen für Daueraufgaben sorgt und zur Verlängerung von Arbeitsverträgen führt, ist offen.
Aber erste Erfahrungen gibt es dazu schon?
Wir beobachten, dass die Arbeitgeber sehr erfinderisch darin sind, Schlupflöcher im Gesetz aufzuspüren und zu nutzen. Auf der anderen Seite kennen sich auch die Betriebs- und Personalräte der GEW gut aus und achten darauf, dass die verbesserten Rechte der Kolleginnen und Kollegen eingehalten werden. Wir brauchen daher nicht erst im Jahr 2020, wie es im Gesetz geregelt ist, sondern schon jetzt, zwei Jahre nach Inkrafttreten eine erste Evaluation des neuen Gesetzes – damit noch in dieser Wahlperiode, rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl nachgesteuert werden und das Gesetz korrigiert werden kann.
Die Digitalisierung der Schulen wird in der öffentlichen Diskussion als alternativlos dargestellt. Auch im GEW-Mitgliedermagazin E&W heißt es zu den durch die Koalition veranschlagten fünf Milliarden Euro: „Richtig so“. Warum eigentlich?
Für die GEW ist sonnenklar: Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Wir stehen zum Primat der Pädagogik vor der Technik. Auf der anderen Seite wachsen Kinder und Jugendliche heute in einer digitalen Welt auf. Es gehört daher auch zum Auftrag von Bildungseinrichtungen, sie auf einen verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Medien vorzubereiten. Digitale Medien können den klassischen Unterricht ergänzen, aber niemals ersetzen. Die Voraussetzungen für ihren Einsatz gilt es sehr exakt zu bestimmen. In vielen Fällen gibt es gute Gründe, ganz auf digitale Medien zu verzichten. Vor allem junge Kinder sind auf Bewegung und Begreifen von Dingen angewiesen.
Was ist mit der Digitalisierung der Hochschulen? Das Thema wird im Koalitionsvertrag sehr ausführlich behandelt. Es gibt Kritiker, die sehen schon das Ende der Präsenzuni kommen. Dann könnte sich die Politik zum Beispiel Tausende Profs sparen …
Dass die Digitalisierung der Hochschulbildung Dozentinnen und Dozenten ersetzen könnte, ist eine abwegige Illusion. Lehre und Studium werden immer den direkten Kontakt von Lehrenden und Studierenden, den diskursiven Austausch unter den Kommilitoninnen und Kommilitonen brauchen. Online-Angebote dürfen daher Lehrveranstaltungen nicht ersetzen, sondern können diese allenfalls sinnvoll ergänzen. (rw)