BildungstrichterStatus macht Schule
Schon einmal überlegt, warum Du Student geworden bist? Leistungsbereitschaft, Ehrgeiz, ein starker Wille, gute Schulnoten, ein durchdachter Lebensplan? Mag sein, dass das alles oder manches davon eine Rolle gespielt hat. Aber der entscheidende Faktor fehlt in der Aufzählung. Um in den Genuss eines Hochschulstudiums zu kommen, braucht es vor allem eines: Glück! Wobei mit „Glück“ in diesem Fall „Schicksal“ gemeint ist oder „Zufall“ – nämlich der, in die „richtigen“ Verhältnisse hineingeboren worden zu sein. Genauer gesagt und doch grob vereinfachend: Wer aus einem gebildeten Elternhaus stammt, hat selbst gute Aussichten, später einmal an einer Uni zu landen.
Bildungstrichter: Bildungsbeteiligung nach Bildungsstatus im Elternhaus; Quelle: DZHW-Bericht "Beteiligung an Hochschulbildung" 2018
Der Zusammenhang lässt sich beziffern. Das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) ermittelt seit 1985 in regelmäßigen Abständen die sogenannten sozialgruppenspezifischen Bildungsbeteiligungsquoten (BBQ). Diese seien, heißt in der Eigendarstellung, „ein einmaliger Indikator zur Beschreibung der jeweils zu einem Zeitpunkt erreichten Chancengleichheit beim Zugang zur Hochschulbildung“. Tatsächlich lässt anhand des Instruments ziemlich zielsicher bestimmen, welchen Bildungsweg zum Beispiel ein Kind einschlägt, dessen Eltern beide Akademiker sind, und welchen ein Kind, das in einem Arbeiterhaushalt aufwächst.
Schule schafft Verluste
Um das Wirken der BBQs besser zu begreifen, verwenden die Forscher ein Modell, den „Bildungstrichter“. Die Vorstellung ist dabei die: Oben kommen alle Neugeborenen jeder erdenklichen Herkunft hinein und durchlaufen anschließend verschiedene Bildungsphasen, vom Kindergarten über Grundschule, weiterführende Schule bis gegebenenfalls zu einem Studium. Allerdings gelingt das eben nicht allen, unterwegs gibt es erhebliche „Verluste“. Viele erreichen die Hochschule deshalb nicht, weil sie auf eine Realschule gehen, nach der mittleren Reife direkt ins Arbeitsleben wechseln oder sie gar keinen Schulabschluss hinkriegen. Andere machen zwar ihr Abitur, starten danach aber eine Berufsausbildung. Und wieder andere fallen ganz durch, bringen es weder zu einer Ausbildung noch zu einem Job.
Natürlich funktioniert das Konzept „Trichter“ nur auf der Bildebene: Oben ist er weit und nach unten verengt er sich. Wogegen ein echter „Trichter“ alles durchlässt, was man reinschüttet. Auch haut es mit „oben“ und „unten“ nicht hin. Wer beim „Bildungstrichter“ bis nach „unten“ durchdringt, hat es im echten Leben nach „oben“ geschafft, hat mitunter allerbeste Aufstiegschancen. Wer „oben“ stecken bleibt, dessen Zukunftsaussichten sind dagegen in der Regel eher mau. Gleichwohl hat das Bild eine große Anschauungskraft, zumal in Verbindung mit den zugehörigen Zahlen, gerade denen für Deutschland, das mit seinem stark gegliederten Schulsystem übermäßig viele „Bildungsverlierer“ hervorbringt.
79 zu 27
In der Vorwoche hat das DZHW die neueste Version seines „Bildungstrichters“ präsentiert. Die Daten beziehen sich auf das Jahr 2016 und stammen aus der Bevölkerungs- und Hochschulstatistik, dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes sowie der 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW). Der zentrale Befund der Forscher ist dabei der, dass sich an der gravierenden Ungleichverteilung von Aufstiegschancen in den „letzten elf Jahren kaum etwas verändert“ habe. Augenfällig wird das insbesondere an folgender Gegenüberstellung: Von 100 Kindern, von denen mindestens ein Elternteil eine Hochschulausbildung vorweisen kann, nehmen 79 ein Studium auf. Von 100 Kindern aus einem Nicht-Akademikerhaushalt, gehen lediglich 27 an eine Hochschule.
Datenquellen: Bevölkerungsstatistik, amtliche Hochschulstatistik, Mikrozensus 2011, 21. Sozialerhebung 2016, eigene Berechnungen des DZHW
1 Fachoberschule, Berufsoberschule, technische Oberschule, Berufs(fach)schule, Fachakademie (Bayern), Berufsakademie, Schule des Gesundheitswesens, Berufsvorbereitungsjahr, Berufsgrundbildungsjahr
2 Allgemeinbildende Gymnasien, Gesamtschulen, Fachgymnasium
Anmerkung: Rundungsbedingte Differenzen sind möglich. Grundgesamtheit: Nur Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit.
Ganz düster stellt sich die Lage dar, wenn weder die Mutter noch der Vater über einen beruflichen Abschluss verfügen. Statistisch betrachtet schaffen in diesem Fall gerade einmal zwölf Prozent den Sprung an eine Uni. Hat mindestens ein Elternteil einen Berufsabschluss, dann verdoppelt sich die Quote auf 24 Prozent. Auf 48 Prozent erhöht sich der Wert, sobald nur ein Elternteil zusätzlich das Abitur erworben hat. Außerdem haben gemäß der Studie Kinder von Akademikern im Vergleich zu Kindern aus Nicht-Akademikerhaushalten eine um den Faktor 1,8 höhere Chance, die gymnasiale Oberstufe zu besuchen (83 Prozent vs. 46 Prozent). Umgekehrt wechseln Kinder von Nicht-Akademikern viel häufiger nach der Sekundarstufe I an eine berufliche Schule, während Akademikerkinder in der großen Mehrheit in die Oberstufe streben (54 Prozent vs. 17 Prozent).
Reich studiert es sich leichter
Die Wahrscheinlichkeit, ein Studium aufzunehmen, hängt im Wesentlichen davon ab, ob man Abitur hat oder nicht. Zu einem echten „Selbstläufer“ wird die Sache jedoch nur für Akademikerkinder. In 87 Prozent der Fälle wandern sie nach der Schule auf eine Uni, während dies bei Kindern aus Nicht-Akademikerfamilien nur in 47 Prozent der Fälle passiert. Auch für den Fall, dass die Hochschulzugangsberechtigung über den zweiten Bildungsweg erlangt wird, zeigen sich deutliche Abweichungen je nach Sozialgruppenzugehörigkeit. Kinder aus sogenannten bildungsnahen Familien beginnen über diesen Umweg immer noch zu 40 Prozent ein Studium, solche mit „bildungsferner“ Herkunft bloß zu zehn Prozent.
Die Studie benennt eine Reihe möglicher Ursachen für die Mechanismen. So neigten Familien mit geringer ökonomischer Ausstattung und einer höheren Distanz zu weiterführender Bildung dazu, „Bildungskosten zu überschätzen und Bildungserträge zu unterschätzen“. Wie Mitautorin Nancy Kracke in einer Medienmitteilung erklärte, könnten finanziell besser gestellte Elternhäuser „mehr Ressourcen zur gezielten Förderung ihrer Kinder einsetzen“. Zudem werde ein höherer Bildungsabschluss als „Teil der Sicherung des eigenen sozialen Status der Familie angesehen“. Dies komme speziell in den Übergangsphasen zwischen den verschiedenen Schulformen zum Tragen, sobald Entscheidungen für oder gegen eine weiterführende Ausbildung getroffen werden müssten. „So findet beim Durchlaufen des Bildungssystems bei jeder Entscheidung eine erneute Selektion statt, die von der Bildungsnähe des Elternhauses beeinflusst wird.“
Statussicherung
In der Konsequenz sind Kinder aus Akademikerhaushalten deutlich überrepräsentiert an hiesigen Hochschulen. Das DZHW bemisst dies anhand des sogenannten Bildungsbeteiligungsindex (BBI). Dieser beträgt für Studierende mit „bildungsnaher“ Herkunft 2,5. Ihr Anteil unter allen Studienanfängern ist damit zweieinhalbmal so groß, wie es ihrem Anteil in der altersgleichen Bevölkerung entspricht. Für Kinder aus Nichtakademikerhaushalten liegt der Wert bei 0,6 und damit auf dem Niveau der Erhebung aus dem Jahr 2005. Die von Haus aus Benachteiligten konnten ihre Position damit in elf Jahren praktisch nicht verbessern. Derselbe Grad an Unterrepräsentanz zeigt sich laut DZHW-Auswertung bei Studierenden mit Migrationshintergrund. Stammen die Personen aus einer Akademikerfamilie, so zeigt sich mit einem Index von 3,4 hingegen eine noch stärkere Überrepräsentanz als bei den einheimischen Hochschülern.
„Der stete Anstieg der Studienanfängerzahlen der vergangenen Jahre geht folglich nicht mit einer Angleichung sozialer Disparitäten einher“, heißt es im Fazit der Studie. Auch wenn der Grad der Bildungsbeteiligung von Akademikerkindern unter den Studienneulingen seit 2005 leicht gesunken sei, wären diese noch immer ausdrücklich überrepräsentiert. „Der tertiäre Bereich fungiert somit als System, welches in besonderem Maße dem Erhalt des akademischen Status der Familie dient.“
Mehr „Bildungsaufsteiger“
Das ist an sich zwar eine traurige Bilanz, aber auch eine, die über kleinere Fortschritte hinwegtäuscht. Im Vergleich zum „Bildungstrichter“ für das Jahr 2009 sind die Übergangsquoten an die Hochschulen für Akademiker- und Nicht-Akademikerkinder nämlich gestiegen, um zwei bzw. vier Prozentpunkte. Für die wissenschaftliche Geschäftsführerin des DZHW, Monika Jungbauer-Gans, hat sich damit die Gerechtigkeitslücke immerhin „etwas geschlossen“, wie sie dieser Tage im Interview mit Zeit Online bemerkte. „Das liegt unter anderem daran, dass es heute mehr Nicht-Akademikerkinder auf ein Gymnasium schaffen und dann die Berechtigung zum Studium auch häufiger nutzen, als das früher der Fall war.“
Dazu studieren heutzutage weit mehr sozial benachteiligte Menschen, als dies früher der Fall war. So lag etwa im Jahr 2000 der Anteil der Deutschen aus Nicht-Akademikerhaushalt mit abgeschlossenem Studium bei 18,6 Prozent. 2009 waren es schon 21,7 Prozent, 2016 sogar 27,9 Prozent. Und während zwar nur rund ein Viertel der Kinder mit „bildungsfernen“ Eltern ein Studium aufnimmt, stellt die Gruppe mit 47 Prozent fast die Hälfte aller Studierenden. Das liegt laut Jungbauer-Gans daran, „dass es viel mehr Nicht-Akademikerfamilien in der Bevölkerung insgesamt gibt“. Damit sei fast jeder Zweite an einer deutschen Hochschule „ein Bildungsaufsteiger“. Umgekehrt hätten Akademikerkinder „auch früher fast alle studiert, da ist für eine Erhöhung der Anteile nicht mehr viel Luft nach oben“.
Selektionsmeister Deutschland
Trotzdem gilt Deutschland nach wie vor als das Industrieland mit dem selektivsten Bildungssystem. In keinem anderen Mitgliedsstaat der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) stehen soziale Herkunft und Bildungserfolg in einem so engen Bedingungsverhältnis. Besserung würde neben sozialstaatlichen Maßnahmen vor allem die Abkehr vom rigiden gegliederten Schulsystem hin zu einem Modell „längeren gemeinsamen Lernens“ versprechen, etwa durch Verlängerung der Grundschulzeit, wie man dies insbesondere in Skandinavien erfolgreich praktiziert. Für diesen „großen Wurf“ fehlt es nach Lage der Dinge aber an den nötigen politischen Mehrheiten.
Einen anderen Weg sieht Jungbauer-Gans darin, „die Durchlässigkeit des Bildungssystems zu erhöhen und mehr Anschlussmöglichkeiten zu schaffen, zum Beispiel die Möglichkeiten zu verbessern, nach der Realschule noch das Abitur zu erreichen. Auch damit lassen sich Herkunftsunterschiede abmildern.“ Das Deutsche Studentenwerk hat anlässlich der Veröffentlichung der DZHW-Studie dafür plädiert, „die soziale Infrastruktur an Deutschlands Hochschulen weiter auszubauen“. Vor allem über das BAföG sowie den Ausbau von Studentenwohnheimen könne der Hochschulzugang von Nichtakademikerkindern gefördert werden, äußerte sich DSW-Präsident Rolf-Dieter Postlep. Bei all dem gehe es um „eine gesamtstaatliche Aufgabe“ und „das gesamte Bildungssystem“, denn „es kann nicht sein, dass der Bildungsweg eines Menschen so stark von seiner sozialen Herkunft geprägt wird“. (rw)
Quelle und mehr zum Thema
- Bildungstrichter: Die Aufnahme eines Hochschulstudiums hängt stark von der Bildung der Eltern ab (DZHW, 09.05.2018)
- Beteiligung an Hochschulbildung: Chancen(un)gleichheit in Deutschland (DZHW-Brief 03/2018, mit Bildungstrichter 2016)
- Bildungstrichter: Soziale Infrastruktur stärken (Pressemitteilung des Deutschen Studentenwerks, 09.05.2018)
- Interview zur 20. Sozialerhebung (mit Bildungstrichter 2012, 26.06.2013)