Das reicht nicht!Kritiker zerpflücken BAföG-Novelle
Die 26. BAföG-Reform enthält zwar ein paar Verbesserungen, reicht aber bei weitem nicht aus.
Anja Karliczek`s Ruf ist angekratzt. Sie wäre in ihrer 13monatigen Amtszeit als Bundesministerin für Bildung und Forschung nicht durch Arbeit aufgefallen, heißt es über sie. Tatsächlich erscheint ihre politische Bilanz mau: Der jüngst besiegelte „Digitalpakt“, mit dem Deutschlands Schulen mit moderner IT ausgestattet werden sollen, läuft zwar unter ihren Angelegenheiten, wurde aber schon durch ihre Vorgängerin auf den Weg gebracht. Lediglich eine einzige Gesetzesinitiative, die für eine Reform des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG), taugt als greifbarer Tätigkeitsnachweis. Auf weniger bringt es nur das Heimatministerium von Horst Seehofer (CSU), wobei der trotzdem auf allen Kanälen flimmert.
Anders Karliczek: Sie sei die „unsichtbare Ministerin“, spöttelt man im politischen Berlin, und setzte die Kanzlerin sie irgendwann vor die Tür, würde es auch keiner bemerken. Die Vorstellung hat etwas: Eine zur Trägheit neigende Politikerin fläzt sich in ihrem Büro in der Hängematte, schlürft zu Reggaeklängen Cocktails und ihr Mitarbeiterstab dämmert kollektiv weg. Allerdings passt der Anblick der 47jährigen, vom Duktus her erzkonservativ, so gar nicht ins Bild. Als sie am Freitagmorgen mitansehen und -hören muss, wie die Opposition ihre Gesetzesvorlage für die 26. BAföG-Novelle in erster Lesung im Bundestag förmlich in Fetzen reißt, wirkt sie verbissen, angefressen und irgendwie allein gelassen. Da hat sie sich so ins Zeug gelegt, so viel beim Finanzminister herausgeholt – und doch erntet sie nichts als Undank.
„Halbgare Novelle“
„Wenn das alles ist, was Ihnen dazu einfällt, das hätten sie auch letzten Sommer schon haben können“, ätzte zum Beispiel Jens Brandenburg von der FDP-Fraktion. Oder Nicole Gohlke von der Fraktion Die Linke klagte: „Das BAföG, dieses großartige Instrument, verliert mit der großen Koalition jedes Jahr an Bedeutung“. Über eine „Alibinummer“ schimpfte Kai Gehring von den Grünen, statt einer „Strukturreform der Studienfinanzierung legen Sie eine halbgare Novelle vor – das reicht einfach nicht“. Zuvor stand die Ministerin am Rednerpult, hatte mit ihrer staatstragenden Attitüde aber nicht einmal die eigenen Reihen vom Hocker gerissen. „Mit dieser Reform nehmen wir die Mitte der Gesellschaft in den Blick“, erklärte sie und verwies auf Mehrausgaben von 1,2 Milliarden Euro, die die Regierung in der laufenden Legislaturperiode in den BAföG-Ausbau stecken will. Damit löse die große Koalition ihr Versprechen ein: „Wir stärken Familien mit Kindern und Leistungsträger und investieren in die Zukunft.“
Keine Frage: Karliczeks Vorlage klotzt mit Zahlen, wie es sie zuvor selten bis nie gegeben hat. Nach den Plänen sollen die Elternfreibeträge um insgesamt 16 Prozent angehoben werden, die Bedarfssätze um sieben Prozent und der Höchstförderbetrag sogar um 17 Prozent, von derzeit 735 auf künftig 861 Euro. Auch die Vermögensfreibeträge sollen steigen, von 7.500 auf 8.200 Euro. Erleichterung versprechen zudem höhere Zuschläge für die Krankenversicherung (bis zu 155 Euro) und die Pflegeversicherung (bis zu 34 Euro). Obendrein will die Bundesregierung die BAföG-Wohnpauschale von 250 auf 325 Euro heraufsetzen, um den Studierenden wegen der horrenden Mieten beizustehen.
(Alle Änderungen des 26. BAföG-Änderungsgesetzes im Detail)
Zeit stehen geblieben?
Aber gerade am Beispiel Wohnzuschuss offenbart sich die ganze Unzulänglichkeit des Gesamtpakets. Denn was nach viel klingt, genügt in Wahrheit nicht, die Versäumnisse der Vergangenheit wettzumachen. In Großstädten, Ballungsräumen und traditionellen Universitätsstädten rufen Vermieter Preise von 400, 500 oder, wie in München, sogar über 600 Euro für eine Bleibe auf. Nach der 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW) legen Studierende im Mittel 323 Euro für Mietausgaben hin, wobei der Schnitt noch durch diejenigen gedrückt wird, die einen der raren Wohnheimplätze innehaben. Auf dem freien Markt findet man mit 325 Euro allenfalls an kleineren Hochschulstandorten oder in manchen ostdeutschen Städten ein WG-Zimmer.
Außerdem tut die Regierung so, als wäre die Zeit stehen geblieben. Die DSW-Statistik stammt aus dem Jahr 2016, seither haben die Wohnkosten weiter kräftig angezogen. Die Wohnpauschale reicht „vorne und hinten nicht“ und führe zu Verdrängungseffekten, monierte Gohlke von der Linkspartei. „Hier teure Städte und Hochschulen für die Bessergestellten, da der Rest.“ Sie erinnerte dabei an wiederholte Einlassungen Karliczeks, wonach Studierende ja nicht unbedingt in den teuersten Städten unterkommen müssten. Zuletzt hatte sie dies im Interview mit dem Spiegel-Magazin damit begründet, dass es schließlich überall in Deutschland schön sei. „Das finde ich bemerkenswert kaltschnäuzig“, bemerkte die Linkspolitikerin, weil es gerade nicht so sei, dass man sich den Studienort immer frei auswählen könne.
Reform kommt zu spät
Auch Karliczek sollte dies wissen, es sei denn, sie wollte sich damit herausreden, dass sie ihren Abschluss zur Diplom-Kauffrau vom Homeoffice aus an der Fernuni Hagen gemacht hat. So oder so zeugt ihre Bemerkung nicht gerade von Feingespür für die Sorgen, die der grassierende Mietwucher gerade jungen Menschen bereitet. Geschick im Umgang mit der Öffentlichkeit ist ohnehin nicht ihre Stärke. Als sie vor einem Jahr als „Namenlose“ und „Merkels Überraschungskandidatin“ ins Kabinett einrückte und sich erklären musste, wie sie sich als Fachfremde im Bildungs- und Forschungsressort bewähren wolle, meinte sie: „Fragen, fragen, fragen (...), bis ich ein gutes Gefühl habe, wie der Hase da so läuft“, und „ich werde mich jetzt erst mal sehr gründlich einarbeiten“.
Solche Sprüche fallen ihr natürlich auf die Füße, jetzt, da ihre Reform erst reichlich verspätet daherkommt. Warum hat sie nicht schon im Herbst 2018 geliefert? War der Hase da noch auf Irrwegen? Bei ihrem Amtsantritt war jedenfalls längst klar, dass die 2016er-Reform von Ex-Ministerin Johanna Wanka (CDU) nicht die beschworene Trendwende beim BAföG gebracht hatte. Im Gegenteil, die Gefördertenzahlen waren sogar weiter abgeschmiert. „87 Prozent der Studierenden sind außen vor“, allein zwischen 2013 und 2017 sei die Zahl der BAföG-Bezieher um 200.000 gesunken, rechnete Gehring von der Grünen-Fraktion in seinem Redebeitrag vor. „Rekordverdächtig“ sei nur der Anteil derer, die nebenher jobben und 60 Stunden wöchentlich mit Arbeit und Studium zubringen müssten.
Studieren unter der Armutsgrenze
Der hochschulpolitische Sprecher verwies auf eine Studie des Berliner Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS), nach der Studierende aus ärmeren Familien sich teilweise unterhalb des „physiologischen Existenzminimums“ ernährten. „Das ist eine Schande für unser reiches Land“, bekräftigte Gehring und verlangte eine „sofortige“ Anhebung der Fördersätze und Freibeträge um zehn Prozent mit anschließender automatischer Anpassung an die Lohn- und Preisentwicklung sowie ein Bauprogramm für studentisches Wohnen. Seine Partei plädiert ferner für ein Zweisäulenmodell mit einer Basisabsicherung für alle und einer bedarfsabhängigen Komponente für Studierende aus einkommensschwachem Elternhaus.
Die Linkspartei setzt sich in einem ins Parlament eingebrachten Antrag für eine Anhebung der Regelsätze „auf ein existenzsicherndes Niveau“, eine nach örtlichem Mietniveau gestaffelte Wohnpauschale, die Umstellung der Leistung auf einen Vollzuschuss sowie den Wegfall der Altersgrenzen ein. Nach besagter FiBS-Studie müsste der Regelsatz auf 500 bis 550 Euro erhöht werden, um die tatsächlichen Ausgaben von Studierenden neben den Wohnkosten zu decken. Im Schnitt hatten Studierende schon im Jahr 2016 ohne Miete 496 Euro für ihren Lebensunterhalt ausgegeben. Die Regierung peilt dagegen eine Aufstockung von 399 auf 427 Euro an. Das sei ein Niveau „unterhalb der Armutsgrenze“ schimpfte Gohlke, „damit untergraben Sie den sozialen Ausgleich“. 427 Euro soll es auch nicht gleich geben, sondern erst im Jahr 2020, wenn die zweite Stufe der Reform in Kraft tritt. Zunächst würde der Bedarfssatz zum kommenden Wintersemester um fünf Prozent zulegen, ein Jahr später um weitere zwei Prozent. Die Nachbesserung der Elternfreibeträge soll gar in drei Etappen erfolgen und die vollen 16 Prozent würden erst 2021 greifen.
BAföG-Berichterstattung vertagt
Klar ist somit auch: Eine weitere BAföG-Novelle wird es in dieser Legislaturperiode nicht geben. Mit der nächsten ist daher frühestens 2022 zu rechnen. Realistischer ist das Jahr 2023, weil jede neu gebildete Bundesregierung – die nächste konstituiert sich voraussichtlich Ende 2021 – noch immer mindestens ein Jahr verstreichen lässt, bis sie eine neue Reform der Bundesausbildungsförderung in Angriff nimmt. Damit droht wieder eine lange Hängepartie von mehreren Jahren, in denen zwar die Löhne und Preise weiter anziehen, das BAföG aber auf dem schon da nicht mehr zeitgemäßen Planungsstand des Jahres 2019 verharrt. Das erklärt auch, warum die Aufschläge so vergleichsweise üppig anmuten. Man baut nicht, wie sonst üblich, für zwei Jahre, sondern für drei, vier oder vielleicht sogar mehr Jahre vor und muss dazu noch etliche Jahre nachholen, in denen die Leistungen gar nicht oder völlig ungenügend nachgebessert wurden und Zigtausende aus der Förderung purzelten. Schließlich gab es zwischen 2010 und 2016 gar keine Anpassung, dann vor drei Jahren eine größere, die aber die sechs Jahre Pause nicht ausgleichen konnte.
So etwas kann sich durchaus wiederholen und vielleicht legt sich die Regierung schon jetzt die Argumente für kommende Zeiten zurecht, wenn Studierende wieder einmal Begehrlichkeiten anmelden. Dann heißt es womöglich: „Was wollt ihr denn, ihr hattet doch erst einen riesigen Schluck aus der Pulle.“ Überdies geht Karliczeks Reform weithin unbemerkt mit einem „Rechtsbruch“ einher. Laut Gesetz muss die Bundesregierung im Zwei-Jahres-Turnus einen BAföG-Bericht vorlegen, der dokumentiert, wie sich der Gefördertenkreis in Art und Umfang vor dem Hintergrund der Lohn- und Preisentwicklung entwickelt hat. Auf dieser Basis sind dann gegebenenfalls Nachsteuerungen vorzunehmen, die Bestandsaufnahme wird also zum möglichen Impulsgeber für die nächste Novelle. Eigentlich hätte die Ministerin in diesem Jahr liefern und damit womöglich eingestehen müssen, dass ihre „neuesten“ Pläne schon jetzt wieder „veraltet“ sind. Daraus wird nichts: Die Veröffentlichung des BAföG-Berichts wurde kurzerhand auf 2021 verschoben, vier Jahre nach Erscheinen des letzten Ausgabe.
Verbände starten Petition
Als „fernab jeder Lebensrealität“ bemängelten in der Vorwoche der studentische Dachverband fzs sowie die Hochschulgruppen der Jusos und von Campusgrün in einer gemeinsamen Stellungnahme die Gesetzesvorlage. „Mit der anstehenden Novelle hat die Bildungsministerin die Chance verspielt, grundlegende Fehlentwicklungen zu korrigieren und das BAföG wieder für deutlich mehr Studierende zugänglich zu machen“, erklärte Julie Göths, Bundesvorstandsmitglied der Juso-Hochschulgruppen. „Wir brauchen ein BAföG, das mit der Zeit geht“, ergänzte Marcus Lamprecht vom fzs-Vorstand. Dazu zählten neben höheren Geldleistungen „die Entkopplung der Förderung von der Regelstudienzeit“ sowie die Förderung von Teilzeitstudierenden.
Am Donnerstag in der Vorwoche hat das „BAföG-Bündnis“, bestehend aus fzs, parteinahen Hochschulgruppen, der Gewerkschaftsjugend von DGB, IG Metall, GEW und Verdi, auf Change.org die Petition „#BAföGrauf“ gestartet. „Nachdem fast zwei ganze Studierendengenerationen keine Verbesserungen beim BAföG erfahren haben, muss nun endlich eine umfassende und substantielle Reform erfolgen“, heißt es dort. „Langfristig brauchen wir eine grundlegende Neuauflage des BAföG. Es muss zu einem alters- und elternunabhängigen Vollzuschuss für alle weiterentwickelt werden.“
FDP-Baukastenmodell
Oder es kommt ganz anders? Die FDP, die sich Hoffnung macht, gemeinsam mit der Union die nächste Bundesregierung zu stellen, plädierte im Bundestag für ihr sogenanntes Baukastenmodell. Gut daran klingt nur, dass es elternunabhängig ausgezahlt werden soll. 200 Euro stünden grundsätzlich jedem zu, weitere 200 Euro denen, die zehn Wochenstunden jobben gehen, Kinder erziehen oder Angehörige pflegen. Das, was dann noch zum Leben fehlt (ganz schön viel), müsste man sich bei einer Bank als flexibles Darlehen leihen. Und ganz nebenbei wollen die Freidemokraten auch noch das Kindergeld abschaffen. Das ist sogar Anja Karliczek zu viel bzw. zu wenig: „Wer jeden unterstützen will, unterstützt niemanden mehr.“ Sie unterstützt lieber zu wenige zu wenig. Wer mehr will, zeichne bei Change.org. Das haben bisher nur ein paar hundert getan. Auch das reicht nicht. (rw)
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