Keine Spur von TrendumkehrNegative Halbjahresbilanz der BAföG-Novelle
Nix mit Daumen hoch für die aktuelle BAföG-Reform?
Eine Frau, ein Wort! Wann und wo immer sich Bundesbildungsministerin Anja Karliczek in der Vergangenheit für ihre BAföG-Reform ins Zeug gelegt hatte, fiel immer auch dieses eine Wörtchen: „Trendumkehr.“ Sobald erst einmal die Regelsätze und Elternfreibeträge heraufgesetzt und die Wohnpauschale angehoben wären, würden die Gefördertenzahlen wieder steil nach oben gehen. Dann wäre es ein für alle mal vorbei mit dem Antragsschwund und das Comeback der Sozialleistung garantiert. So lautetet das Versprechen der CDU-Politikerin und wie auf Knopfdruck erklang zu jeder Gelegenheit ihre Lieblingsvokabel: „Trendumkehr“, wahlweise auch „Trendwende“, dazu der kaum minder strapazierte Spruch vom „ordentlichen Schluck aus der Pulle“.
Das alles war vor der Reform, also bevor die 26. Novelle des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) zum 1. August 2019 in Kraft getreten ist. Heute, siebeneinhalb Monate später, ist die Situation augenscheinlich so mies wie eh und je. Oder so: Von Karliczeks „Trendumkehr“ fehlt bisher jede Spur. Obwohl auf Bundesebene noch keine Daten vorliegen, liefert eine Wasserstandsmeldung aus dem Land Berlin klare Anhaltspunkte dafür, dass der Niedergang des BAföG nicht nur nicht gestoppt ist, sondern unvermindert anhält.
Berliner Schrumpfkur
Die Fraktion der Partei Die Linke im Abgeordnetenhaus hat beim Senat die aktuellen Zahlen abgefragt: Danach nahmen in der Hauptstadt von August 2019 bis Januar 2020 zwischen fünf und sieben Prozent weniger Studierende die staatliche Ausbildungshilfe in Anspruch – verglichen mit den jeweiligen Vorjahresmonaten. Über das halbe Jahr betrachtet, betrug das Minus im Schnitt fünf Prozent. Für Tobias Schulze, wissenschaftspolitischer Sprecher der Linksfraktion, sind das „dramatische Werte“. Insbesondere würden immer weniger Studierende aus Elternhäusern mit geringem Einkommen kommen.
Nach dem Zahlenwerk der Senatskanzlei für Wissenschaft hatten im August 2015 noch knapp 27.500 Studierende BAföG-Leistungen bezogen. Im Januar dieses Jahres waren es nicht einmal mehr 22.000, was einem Rückgang von über einem Fünftel entspricht. Dem steht eine Zunahme an Hochschülern um rund 13.000 im selben Zeitraum gegenüber, was die Gefördertenquote weiter absacken ließ. Wie aus dem Material weiter hervorgeht, hat es in den zurückliegenden viereinhalb Jahren keinen einzigen Monat gegeben, in dem die Zahl der Leistungsempfänger im Vergleich zum Monat des Vorjahres angestiegen oder wenigstens gleich geblieben wäre. Mitunter sind Abnahmen von über zwölf Prozent zu verzeichnen.
Chart: Die Entwicklung der Gefördertenquote bezogen auf alle Studierende
Talfahrt ohne Ende
Noch massiver sind die Verluste beim Schüler-BAföG. Hier gingen die Förderungen seit Januar 2016 um rund 3.300 auf nur noch 8.100 zurück. Der Rückgang beläuft sich damit auf mehr als ein Viertel. In der Zeitreihe zeigen sich gleich etliche Monate, in denen die Einbußen über die Zehn-Prozent-Marke hinausgingen. Im Juli 2019 bezogen sogar knapp 30 Prozent weniger Schüler BAföG als im Juli 2018.
Selbst mit den zuletzt aufgebesserten Fördersätzen und Freibeträgen nahm die Talfahrt kein Ende. Immerhin schrumpften die Defizite bei den Studierenden ein wenig – auf 4,4 Prozent im Januar. Bei den Schülern brachte der August 2019, als die Reform wirksam wurde, tatsächlich eine Erholung mit einem Plus von über elf Prozent. Danach ging es dann aber wieder bergab, so dass der Januar rund 7,5 Prozent weniger Profiteure zählte als der Januar 2018. Dabei war es das ausdrückliche Ziel der Bundesregierung, die Förderzahlen und -quoten wieder deutlich nach oben zu treiben. Aktuell erhalten bei deutschlandweit fast 2,9 Millionen Studierenden unter zwölf Prozent BAföG-Leistungen.
Halbherzige Reform
Die Novelle „war nicht weitreichend genug“, befand Linke-Politiker Schulze in einer Stellungnahme. Die Freibeträge hätten „viel deutlicher“ angehoben werden und die Altersgrenzen wegfallen müssen. Außerdem sei das Darlehensmodell, das einen Schuldenberg für Studierende produziere, „überholt und gehört abgeschafft“. Statt dessen sprach sich der Abgeordnete für die Rückkehr „zu einem System der Vollförderung“ aus und kündigte entsprechende Schritte an. „Sollte der Bund nicht tätig werden, wollen wir eine Bundesratsinitiative initiieren, um die notwendigen Reformen auf den Weg zu bringen.“
Die große Koalition hatte die Bedarfssätze zunächst um fünf Prozent angehoben, in einem zweiten Schritt sollen in diesem Jahr weitere zwei Prozent draufgesattelt werden. Der geplante Aufschlag bei den Elternfreibeträgen um insgesamt 16 Prozent soll sich gar auf drei Etappen erstrecken. Los ging es mit sieben Prozent 2019, gefolgt von drei Prozent im nächsten Sommer und noch einmal sechs Prozent im Jahr 2021. Zudem wurde der Mietzuschuss für außerhalb ihres Elternhauses lebende Studierende von 250 Euro auf 325 Euro aufgestockt. Schon im Gesetzgebungsverfahren hatten sich jedoch allerhand Kritiker zu Wort gemeldet, die die Reform als verspätet und halbherzig brandmarkten.
900 Millionen Euro „gespart“
Ob die Berliner Verhältnisse ihre Entsprechung auf Bundesebene haben, wird sich spätestens im Sommer zeigen, wenn das Statistische Bundesamt die offizielle BAföG-Statistik vorlegt. Es spricht manches dafür, dass die Misere auch andernorts kein Ende hat. So will Schulze aus dem Bundesbildungsministerium (BMBF) gehört haben, dass „die bisher unveröffentlichten Zahlen so schlecht wie in Berlin (sind).“ Und auch das passt ins Bild: Über die Universität Wuppertal schrieb in der Vorwoche die Westdeutsche Zeitung (Artikel hinter der Paywall), 2019 hätten deutlich mehr Studierende BAföG bezogen als im Jahr davor. Allerdings erklärte Fritz Berger vom örtlichen Hochschulsozialwerk, dies sei ein exklusiver Einzelfall in ganz Nordrhein-Westfalen. Überall sonst wäre ein fortdauernder „Sinkflug“ der Anträge festzustellen.
Den stärksten Beleg, dass ihre Reform zumindest fürs erste nicht funzt, hat derweil ihre Urheberin selbst geliefert. Gemäß einer Aufstellung, die das BMBF Anfang März an die Haushaltspolitiker der Bundestagsfraktionen verschickt hat, wurden 2019 rund 900 Millionen Euro weniger abgerufen, als fürs BAföG eigentlich vorgesehen waren. Soll heißen: Das viele schöne Geld, das Karliczek unter bedürftigen Studierenden und Schülern verteilen wollte, kam bei den Adressaten gar nicht an. So flossen für die Unterstützung von Studierenden tatsächlich bloß 989 Millionen Euro, wogegen laut Haushaltsansatz 1,56 Milliarden eingeplant waren. Das Schüler-BAföG kostetet 708 Millionen Euro, während dafür 1,059 Milliarden kalkuliert waren. Alles in allem wurden damit nur knapp zwei Drittel der vorhandenen Mittel ausgegeben.
Billige Ausreden
Während dies für die Opposition im Bundestag ein Beweis für das Scheitern der Reform ist, dreht Karliczek den Spieß einfach um. „Aufgrund der anhaltenden guten Konjunktur und Wirtschaftslage haben sich die BAföG-Ausgaben nicht wie geschätzt entwickelt“, ließ sie verlauten. Außerdem würden sich die Maßnahmen „erst im ersten Vollwirkungsjahr 2020 haushalterisch auswirken und endgültig validieren lassen“. Das mag zwar stimmen, taugt aber längst nicht als Ausrede dafür, dass die Reform im ersten halben Jahr praktisch komplett verpufft ist.
Das schwant wohl auch der mitregierenden SPD, die die Novelle seinerzeit noch als großen Wurf abgefeiert hatte. Deren bildungspolitischer Sprecher im Bundestag, Oliver Kaczmarek, verspricht sich zwar Besserung in den kommenden Monaten. Gleichwohl räumte er am vergangenen Donnerstag im Deutschlandfunk ein: „Erst mal ist das ein besorgniserregender Befund. Wenn man ein Gesetz macht und die Mittel nicht abgerufen werden, dann scheint da beim Gesetz was nicht zu funktionieren.“ Nun ja, das kann ja noch werden, vielleicht dann, wenn die nächsten Stufen der Reform in diesem und im nächsten Jahr zünden. Für Kaczmarek jedenfalls gilt, dass die „Trendwende“ bis zum Ende der Wahlperiode erreicht sein müsse. Das wäre dann im Herbst 2021.
„Sofort nachsteuern!“
Aber was, wenn das nicht passiert? Was, wenn sich die schon heute weitverbreitete Haltung unter eigentlich bedürftigen Studenten und Schülern weiter verfestigt, lieber auf ohnehin unzureichende Hilfen zu verzichten, als später auf einem Schuldenberg zu sitzen; lieber neben dem Studium zu jobben und so mithin den Studienerfolg aufs Spiel zu setzen, als sich durch den BAföG-Antragsdschungel zu kämpfen. Denn auch die Komplexität der Antragstellung und des Berechnungsverfahrens scheint zunehmend abzuschrecken. Da hilft es nicht, von Digitalisierung zu reden, sondern es braucht zuerst eine deutliche Vereinfachung des Gesetzes. Nur so lässt sich der Antragsprozess wirklich vereinfachen.
Dazu sollte mehr Verlässlichkeit kommen: Automatische Anpassung der BAföG-Höhe spätestens alle zwei Jahre, bezogen auf den realen studentischen Bedarf. Denn in den letzten 20 Jahren gab es zwei mal Zeiträume von sechs Jahren, in denen sich nichts tat – das darf es nicht mehr geben.
Weil solche Trends mit ein bisschen mehr Geld und höheren Freibeträgen nicht zu durchbrechen sind, hatte das Deutsche Studentenwerk (DSW) schon im November eine umfassende Runderneuerung des Systems angemahnt. Diese müsste beinhalten: Den Wegfall von Altersgrenzen, die Förderung von Teilzeitstudien, die einmalige Bewilligung der Förderung für die Regelstudienzeit plus zwei Semester, die Digitalisierung des Antragsprozesses sowie flankierende Investitionen in die soziale Infrastruktur, vor allem eine Offensive beim Wohnheimbau.
Für all das macht sich auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) stark. Deren Vizevorsitzender Andreas Keller verlangte bereits Nachbesserungen, kaum dass Karliczek ihr kleinmütiges Reförmchen durch den Bundestag gebracht hatte. Nun sieht er seine Befürchtungen bestätigt. „Erst knausert die Regierung und dann bleibt sie auch noch auf ihren Haushaltsmitteln sitzen“, beklagte er am Montag im Gespräch mit Studis Online. Es sei von Anfang an klar gewesen, dass das Maßnahmenpaket zu kurz greife. Die Erhöhung der Bedarfssätze in zwei Schritten sei „weit hinter den gestiegenen Lebenshaltungskosten“ zurückgeblieben – gerade mit Blick auf die „explodierenden Mietpreise“. Überdies habe es die Koalition verpasst, die „überfällige Strukturreform der Ausbildungsförderung“ anzupacken, samt „Abschaffung der Altersgrenzen, Förderung von Teilzeitstudien und Umstellung auf Vollförderung“.
Das alles räche sich jetzt, bekräftigte Keller und weiter: „Frau Karliczek muss darauf reagieren und noch in dieser Wahlperiode nachsteuern: mit einer weiteren BAföG-Novelle.“ Das allerdings wäre dann mal wirklich gegen den Trend. (rw)