Nicht mit dieser Regierung?Soforthilfe und Solidarsemester
Solidarität ist nötig – mit denen, die vor Corona geschützt werden müssen, aber auch mit allen, die nun finanziell (noch) schlecht dastehen.
Semester oder Nichtsemester – das ist hier die Frage. Zumindest könnte man das meinen angesichts der unverändert großen Ungewissheiten, wie es mit der Corona-Krise im Allgemeinen und den Hochschulen im Besonderen weitergeht. Während momentan noch keiner verlässlich sagen kann, ob die Gesellschaft in Wochen, Monaten oder mithin noch später zur Normalität zurückkehrt, haben sich die Wissenschaftsminister der Länder bereits festgelegt: „Das Sommersemester findet statt.“
Mit ihrer Ansage vom vergangenen Freitag hat die Kultusministerkonferenz (KMK) für einiges Erstauen gesorgt. Überraschend ist dabei sowohl der frühe Zeitpunkt als auch die – dem Eindruck nach – Endgültigkeit der Entscheidung. Schließlich ist gegenwärtig längst nicht ausgemacht, wann und ob die Unis überhaupt so bald wieder in den regulären Betrieb schalten. Genauso unabsehbar ist, wie ein möglicher Übergang vom Studium „à la Homeoffice“ zurück zum alten Status quo mit Präsenzlehre, Scheinen und Prüfungen vonstatten gehen könnte.
Wischiwaschi
Bei der KMK weiß man das auch, tut aber so, als wären kommende Probleme und Konflikte überschaubar und mit ein bisschen Geschick, Improvisation und gutem Willen locker zu bewältigen. „Das Sommersemester 2020 wird ein ungewöhnliches, es soll jedoch kein verlorenes Semester sein“, heißt es in besagtem Beschluss. Es werde angestrebt, „die erforderlichen Rahmenbedingungen für einen möglichst reibungslosen Lehr- und Forschungsbetrieb im Sommersemester 2020 zu schaffen“. Dabei sollten „durch klare Leitlinien möglichst viel Flexibilität für die Semestergestaltung gewährt werden, aber auch Verlässlichkeit und Planungssicherheit bei gleichzeitiger Nachteilsvermeidung für Studentinnen und Studenten“.
Wenn „Planungssicherheit“ und „Flexibilität“ in einem Satz auftauchen, ist Wischiwaschi die Devise. Der Arbeitsauftrag der Politik an die Hochschulen lautet denn auch: Macht mal – irgendwie! Alles soll zwar nach Möglichkeit über die Bühne gehen, muss aber auch nicht unbedingt. Sicher ist eigentlich nur, dass nichts sicher ist. Wenn die KMK etwa anordnet, „die Semesterzeiten für das Sommersemester 2020 werden nicht verschoben“, dann mag das Entschlossenheit signalisieren. Aber was kann man darauf geben, wenn die Bundesregierung den gesellschaftlichen Lockdown samt Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen über den 19. April hinaus verlängert? Und wie passt die Vorgabe mit der zusammen, „die Vorlesungszeiten (...) können flexibel ausgestaltet werden“?
Ein Dankeschön fürs Digitale
Bedeutet flexibel, den Lernstoff eines Viertel Jahres in einem Monat abzureißen und abzuprüfen oder Vorlesungen und Seminare bis zum August, September oder Oktober zu verlängern? Nichts dazu sagt die KMK, bis auf das hier: „Die Vorlesungen an Universitäten und Fachhochschulen sollen im Wintersemester 2020/2021 einheitlich am 01.11.2020 beginnen.“ Aber auch hier ist eben nur von „sollen“ die Rede und wenn es tatsächlich so kommt, schließen sich neue Unklarheiten an – etwa die Frage, ab wann für Erstsemester in diesem Fall Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) bewilligt und ausgezahlt werden.
Praktisch gar nichts äußern die Kultusminister zum Stand oder Gelingen digitaler Lernformen. Kritiker fürchten hier große Verwerfungen, je nach „Fortschrittlichkeit“ der jeweiligen Hochschule, der Technikaffinität des Lehrpersonals und der Anschlussfähigkeit der Studierenden zu Hause. Im schlechtesten Fall hat jeder Student zum Vorlesungsauftakt sein ganz individuelles Wissens- und Leistungsniveau und der Dozent keinen Plan, wie er – womöglich in nur einem Monat – für gleiche und faire Studien- und Prüfungschancen sorgen soll. Immerhin haben die Länder ein paar warme Worte parat: „Sie danken den Hochschulen für ihre Bemühungen zur Sicherstellung des Lehr- und Forschungsbetriebs vor dem Hintergrund der Covid-19 Pandemie insbesondere durch die Bereitstellung digitaler Lehr- und Lernformate.“ Na dann …
Nicht auf Biegen und Brechen
Auf eine ganze Reihe an Ungereimtheiten hat am Montag die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hingewiesen. Die vereinbarten KMK-Leitlinien seien „unvollständig und geben den Hochschulen einen maximalen Spielraum bei der Umsetzung“, monierte der stellvertretende Verbandsvorsitzende Andreas Keller in einer Medienmitteilung. So gebe es „keine Regelungen, wie Prüfungen durchgeführt und anerkannt werden, die Lehrverpflichtung angepasst wird, und für einen kollektiven Nachteilsausgleich der Studierenden“.
Keller befürchtet, „dass einige Hochschulen das volle Semesterprogramm auf Biegen und Brechen durchziehen wollen – und dafür das Studium flächendeckend auf Onlinelehre umstellen oder die Vorlesungszeit weit in die Sommerferien hinein verschieben“. In der Breite wären Unis und FHs allerdings „weder technisch noch didaktisch auf ein digitales Lehrangebot für alle Studiengänge vorbereitet“. Zudem benötigten Studierende und Lehrende die vorlesungsfreie Zeit im Sommer „dringend für Prüfungen, Vor- und Nachbereitungen, Forschung und wissenschaftliche Qualifizierung, die Entwicklung digitaler Lehr- und Studienformate und nicht zuletzt den verdienten Erholungsurlaub“. Eine Ausweitung der Vorlesungszeit in die Semesterferien lehne die GEW deshalb „strikt“ ab.
„Ein Semester kann warten“
Ähnlich argumentiert eine Initiative von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern, die sich unlängst in einem „offenen Brief aus Forschung und Lehre“ für ein „Nichtsemester“ ausgesprochen hatten. Die Hochschulen müssten „auf den überstürzten Takt der öffentlichen Entwicklungen und Maßnahmen mit Entschleunigung reagieren“, liest man darin. „Wenn wir als Lehrende konstruktiv und im Sinne der Studierenden agieren wollen, kann es nicht darum gehen, so schnell wie möglich den Status quo des herkömmlichen Lehr- und Prüfungssystems online wiederherzustellen.“ Daher solle die Lehre im Sommersemester stattfinden, „aber das Semester soll nicht formal zählen“. Insbesondere dürften Studierenden, die keine Studienleistungen erbringen können, „keine Nachteile entstehen“.
Der Aufruf war am Tag der Veröffentlichung von knapp 1.400 Professorinnen und Professoren, Dozentinnen und Dozenten gezeichnet. Inzwischen stehen über 13.000 Unterstützer hinter dem Vorstoß. Anders als die KMK adressiert die Initiative nicht einseitig das Abstraktum Hochschule, sondern die Menschen dahinter. „Mindestens 85 Prozent der Lehrenden und Forschenden sind (sehr) prekär beschäftigt. Studierende, die erwerbstätig sind, Careverpflichtungen haben, über wackelige technische Infrastruktur und wenig Ressourcen verfügen, sind die Mehrheit, nicht die Ausnahme.“ Viele hätten zudem Aufenthalts- und Visa-Probleme. „Nennen wir es Nichtsemester, Fleximester, Optionalsemester, Kreativsemester …“, schreiben die Urheber des Briefs. Angesichts der Vielfalt der persönlichen Krisen, in die die Corona-Krise zahllose Betroffene stürze, habe die solidarische Bewältigung der Pandemie „oberste Priorität“ und weiter: „Ein Semester kann warten.“
Schert Bayern aus – oder zieht alle mit?
Im Corona-News-Blog der Süddeutschen wurde am Montag um 12:38 Uhr vermeldet: „Das Sommersemester wird wegen der Corona-Krise den etwa 400 000 Studenten in Bayern nicht als Semester auf die Regelstudienzeit und das BAföG angerechnet.“ Das habe Wissenschaftsminister Bernd Sibler (CSU) bei einer Veranstaltung der Universität Würzburg gesagt. Das wäre zwar schön – fraglich erscheint nur, ob das wirklich mit den anderen Ländern und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) abgesprochen ist.
Eher muss man annehmen, dass es sich wieder einmal um ein bayerisches Vorpreschen handelt – wie schon öfter in Sachen Corona-Krisenmanagement erlebt. Gut wäre die Maßnahme natürlich nur, wenn trotzdem weiter BAföG ausgezahlt wird. Ob dann aber das Semester gar nicht zählt – selbst wenn es wie berichtet an einigen Hochschulen gut laufen sollte – und ob die Studierenden sozusagen ein Semester BAföG geschenkt bekommen, wird man abwarten müssen. Auch hier gilt: Nichts genaues weiß man noch nicht …
50.000 für Soforthilfe
Für den Moment treiben Studierende derzeit ohnedies andere Sorgen um als die Frage, wie sie den nächsten Schein machen oder die nächste Prüfung bestehen sollen. Nicht wenige bangen um ihre nackte Existenz – weil ihr Studijob plötzlich weggebrochen ist, Miete und Rechnungen zu begleichen sind und sie nicht wissen, womit sie ihr Mittagessen bezahlen sollen. Wie sehr der Schuh drückt, belegt der weiterhin ungebremste Andrang auf eine vor knapp drei Wochen gestartete Petition, die vom Bund die Bereitstellung von Soforthilfen für in finanzielle Bedrängnis geratene Hochschüler in Höhe von 3.000 Euro für drei Monate fordert. Zu Wochenanfang wurde die Hürde von 50.000 Unterstützern geknackt. Damit ist die Voraussetzung dafür erfüllt, dass die Betreiber der Plattform openPetition.de bei der Bundesregierung eine Stellungnahme zu dem Anliegen einholen.
Bisher hat sich die Bundesregierung in der Sache nicht bewegt. Zwar verspricht sie Erleichterungen mit Blick auf die Bewilligung und Auszahlung von BAföG-Leistungen und den Zugang von Studierenden in Hartz-IV und Wohngeld. Desgleichen wollen sich laut besagtem KMK-Beschluss auch die Länder dafür einsetzen, „dass beispielsweise beim BAföG, dem Kindergeld oder der Krankenversicherung flexible Regelungen gefunden werden, die den Lebenswirklichkeiten der Studentinnen und Studenten in Zeiten der Covid-19-Pandemie gerecht werden“.
Immerhin: Hartz IV ohne Beurlaubung
Direkte, unbürokratische Zuwendungen, um der unmittelbaren Not der durch das Virus ihrer Lebensgrundlage beraubten Studierenden zu begegnen, hat die große Koalition (bislang) dagegen nicht auf dem Zettel. Was auch deshalb befremdlich wirkt, weil viele andere von der Krise Gebeutelte – Familien, Mieter, Beschäftigte, Freiberufler, Künstler, Pfleger, Krankenhäuser, kleine Firmen, Großunternehmen, Konzerne und Banken – mit Hilfen im Umfang Hunderter Milliarden Euro begünstigt werden sollen. Man fragt sich schon, warum ausgerechnet Studierende hier leer ausgehen sollen. Ganz böse Zungen könnten den politischen Entscheidern unterstellen, die überfüllten Hochschulen im Windschatten der Epidemie von ihrer Überlast zu befreien. Wenn von knapp 2,9 Millionen Studierenden über zwei Drittel ihr Studium mit Jobben finanzieren, könnten es nach der Krise reichlich weniger sein, die überhaupt noch studieren.
Indessen gibt es wenigstens für die Ankündigung, Betroffene könnten im Zuge einer Härtefallregelung Arbeitslosengeld II (Hartz IV) beziehen, eine amtliche Bestätigung. Auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion Die Linke erklärte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in ihrer Studis Online vorliegenden Erwiderung: „In der aktuellen Situation ist eine Anspruchsberechtigung auch ohne Beurlaubung aus der sogenannten Härtefallregelung im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (...) abzuleiten.“ Das Geld muss zwar wie bisher hinterher zurückgezahlt werden, Studierende können es nun jedoch übergangsweise erhalten, ohne an der Uni aussetzen zu müssen. Bleibt die Frage, wer und wie viele den Antragsstress in Zeiten geschlossener Arbeitsagenturen und glühender Telefondrähte auf sich nehmen.
Linke verlangt Sozialfonds
Die wissenschaftspolitische Sprecherin der Linken, Nicole Gohlke, hält das Vorgehen für zu aufwendig und unzulänglich. „Während die Bundesregierung für den Rettungsschirm bei der Wirtschaft den Turbo einlegt, bewegt sie sich bei der Unterstützung für bis zu zwei Millionen Studierende im Schneckentempo.“ Karliczek ignoriere schlechthin die finanzielle Notlage. „Eine BAföG-Verlängerung ist ein erster Schritt, aber hilft nicht bei Nebenjobverlust, und die ALG-II-Härtefallregelung bringt im besten Fall ein Überbrückungsdarlehen.“ Deshalb Gohlkes Forderung: „Es braucht jetzt einen Bund-Länder-Sozialfonds für unkomplizierte Soforthilfen.“ Einen entsprechenden Antrag will ihre Fraktion in Kürze in den Bundestag einbringen. Ein Rettungspaket für Studierende hat auch das Deutsche Studentenwerk (DSW) angemahnt.
Für noch mehr Druck will das neugegründete Bündnis „Solidarsemester“ sorgen, zu dem sich eine Vielzahl bundesweit, regional und lokal agierender Studierendenvertreter und Beschäftigteninitiativen zusammengeschlossen hat. Auf der neu eingerichteten Webseite heißt es: „Das Leben an den Hochschulen ist charakterisiert durch Stillstand, der durch die Unangepasstheit derzeitiger Regelungen zu erheblicher Unsicherheit bei allen Beteiligten führt. Auch abseits vom Kerngeschäft der Hochschulen, beispielsweise in der studentischen Arbeit und in der Pandemiebewältigung öffnen sich Regelungslücken, die den Beteiligten mitunter zum erheblichen Nachteil geraten.“ Deshalb rufe man „zu einem Sommer der Solidarität an den Hochschulen auf, in welchem Lehrende und Studierende gemeinsam die Herausforderungen der Krise angehen, strukturelle Entlastung gewährt und der Leistungsdruck ausgesetzt wird – von allen Seiten“.
Onlinedemonstration
Um die Fülle der studentischen Forderungen an Politik und Hochschulen durchzusetzen, hat die Initiative „Lernfabriken ...meutern!“ vom 2. April bis zum kommenden Donnerstag eine Onlinedemo „#Bildungskrise“ auf die Beine gestellt. „Die unzureichende Digitalisierung und das unbegleitete Lernen zu Hause führt dazu, dass schon bestehende Bildungsungleichheiten zwischen Schülerinnen und Schülern weiter verstärkt werden“, geben die Initiatoren zu bedenken. Wer ein eigenes Arbeitszimmer und die entsprechenden Arbeitsmaterialien zur Verfügung hat, könne sich gut auf die Situation einstellen. „Alle anderen, die sich das nicht leisten können, werden von Bildung ab jetzt ausgeschlossen.“
Aber in diesen Zeiten ist nichts gewiss. Vielleicht bewegt sich bei der Bundesregierung doch noch etwas und es wird beispielsweise ein bundesweiter Notfonds installiert. Der müsste aber schon eine Größenordnung von vielen Millionen Euro haben. Bei gerade je 1.000 Euro Hilfe für 100.000 Studierende (was nur etwas über drei Prozent aller Studis sind) wären bereits 100 Millionen Euro erforderlich.
(rw)
Sonderreihe Studium in Zeiten der Corona-Pandemie
- Auslandsstudium & Erasmus-Stipendien zu Zeiten des Corona-Virus
- Studienfinanzierung: Überblick über alle Finanzquellen in der Corona-Flaute
- Regelungen für Notfälle: BAföG & Corona
- Cash & Corona? Jobben für Studierende in der Corona-Krise
- Digitales Lernen & Corona – Wie du im Home Office gut lernst
- Virtuelles Praktikum als Alternative
- Studieren in Zeiten von Corona: Wie du die Zeit sinnvoll nutzen kannst
- Mit Resilienz dein Studium in der Corona-Krise bewältigen