Stipendien mit unsozialer SchlagseiteHilfe für Nicht-Bedürftige
Welches Kind später einmal eines der raren Stipendien für ein Studium ergattern wird, hängt immer noch sehr stark mit der sozialen Herkunft zusammen.
Die Corona-Krise wird nicht wenigen Studierenden das Studium kosten. Wie viele junge Menschen wegen des Lockdowns und der massenhaft weggebrochenen Jobs vom Campus verschwinden werden oder dies schon haben, wird kaum exakt zu beziffern sein. Vielleicht wollen die politisch Verantwortlichen dies auch gar nicht so genau wissen. Schließlich könnten die Fragen dann noch einmal lauter werden, ob die bewilligten Hilfsmaßnahmen nicht hinter den Erforderlichkeiten zurückgeblieben sind. Auf einen wenigstens ungefähren Überblick wird man wohl noch bis zum Jahresende warten müssen, wenn das Statistische Bundesamt die neuesten Studierendenzahlen bekanntgibt. Dass der langjährige Boom anhält, als wäre nichts gewesen, erscheint jedenfalls ziemlich unwahrscheinlich.
Eines lässt sich schon jetzt sicher sagen: Unter denen, die die das Handtuch werfen, werden sich weitüberwiegend solche finden, deren Eltern es finanziell nicht so dicke haben. Während Kinder aus Gut- und Besserverdienerhaushalten in der Not auf den Beistand ihrer Erzeuger zählen können, gibt es diese Option in sogenannten Nichtakademikerfamilien in der Regel nicht. Noch mehr gilt das in Fällen, in denen Mama oder Papa in der Pandemie selbst ihren Arbeitsplatz verloren haben oder wegen Kurzarbeit noch kürzer treten mussten also sonst.
Corona-Hilfen unzureichend
Wer in dieser Situation keine Reserven hat und davor zurückschreckt, sich mit dem von der Bundesregierung offerierten „zinslosen“ KfW-Studiendarlehen dauerhaft zu verschulden, dem bleibt dann oft nur der Gang zum Sozialamt – verbunden mit dem zum „Exmatrikulationsbüro“. Und selbst die kommenden Begünstigten der frisch aufgelegten „Überbrückungshilfe“ für die härtesten aller Härtefälle werden sich damit schwerlich über Wasser halten können. Das Hilfspaket kommt viel zu spät, wird mit seinen kärglichen 100 Millionen Euro schnell leergeräumt sein und der Maximalzuschuss von 500 Euro monatlich für höchstens drei Monate kann die Verluste eines Vierteljahrs ohne jedes Einkommen nicht wettmachen.
Aber nicht alle, die von Haus aus wenig haben, haben schlechte Karten. Wer Leistungen der Bundesausbildungsförderung (BAföG) beansprucht, ist auf der sicheren Seite. Die Mittel wurden trotz geschlossener Hörsäle regulär weiter ausgezahlt. Und dann ist da noch eine Gruppe, die gut durch die Krise kommt: Stipendiaten, die Unterstützung von einem der 13 in Deutschland agierenden Begabtenförderungswerke erhalten. Die Zahlungen orientieren sich an den Vorgaben des BAföG, ein „Lebenshaltungsstipendium“ beläuft sich derzeit auf maximal 744 Euro monatlich. Als Bonus gibt es obendrauf eine monatliche Studienkostenpauschale von 300 Euro. Überdies werden bei Bedarf Zuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung sowie ein Familienzuschlag und eine Betreuungszulage für Geförderte mit Kind gewährt. Das Beste an all dem: Anders als beim BAföG muss das schöne Geld nicht, also auch nicht zur Hälfte, zurückgezahlt werden.
„Kaum Chancengleichheit“
Wie fast alles hat auch diese Sache einen Haken: In den Genuss einer Förderung kommen überproportional häufig Kinder aus „besseren Verhältnissen“. Gut zwei Drittel der Stipendiaten stammen aus Akademikerhaushalten, in denen ein oder beide Elternteile über einen Hochschulabschluss verfügen. Bezogen auf die Gesamtheit stellen Akademikerkinder aber „nur“ rund die Hälfte aller Studierenden, was selbst schon deutlich über ihren relativen Anteil in der Bevölkerung hinausgeht.
Eine Analyse der Mercator-Stiftung aus dem Jahr 2016 belegt die Ungleichgewichte eindrücklich: Kinder „mittlerer“ Bildungsherkunft stellten damals 20,5 Prozent, die mit „gehobener“ 20,8 Prozent und solche mit „hoher“ Bildungsherkunft 25,6 Prozent der Stipendiaten. Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien („niedrige“ Bildungsherkunft) waren unter den Geförderten gerade einmal mit 19,7 Prozent vertreten.
Angehörige privilegierter Schichten bewerben sich gemäß den Befunden nicht nur öfter auf ein Stipendium als sogenannte Arbeiterkinder. Sie haben damit „auch viel mehr Erfolg“. Von ihnen bekamen vor vier Jahren in 100 Fällen 41 einen Zuschlag, bei Nichtakademikerkindern waren es bloß 34. „Insgesamt erhalten Kinder mit gutbetuchten Akademikerfamilien so 30 Prozent häufiger ein Stipendium als Nichtakademikerkinder“, konstatierten seinerzeit die Autoren. Ähnliche Unwuchten ermittelten sie zum Nachteil von Frauen und Studierenden mit Migrationshintergrund. Die Stipendienchancen würden „maßgeblich durch das Geschlecht und das Elternhaus bestimmt“, resümierte Felix Streiter, Bereichsleiter Wissenschaft der Stiftung und weiter: „Chancengleichheit besteht hierzulande kaum.“
Arbeiterkinder unterrepräsentiert
Tatsächlich ist das schon immer so gewesen und trotz aller politischen Beteuerungen ein durchgreifender Wandel nicht in Sicht. Nach einer Auswertung des Hochschul-Informations-Systems (HIS) aus dem Jahr 2008 waren damals 33 Prozent der Stipendiaten Arbeiterkinder, wie die Tageszeitung (taz) unter Berufung auf die Studienergebnisse in einem Beitrag vom vergangenen November schrieb. Die taz hat in Eigenrecherche die derzeitige Situation bei elf der 13 Begabtenförderungswerke untersucht. Der Anteil der „Erstakademiker/Innen“ unter den Stipendiaten reicht dabei von von 24 Prozent bei der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung bis hin zu 62 Prozent bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS), die der Partei Die Linke nahesteht.
Lediglich die RLS und die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung mit 58 Prozent schaffen es über die 50-Prozent-Marke. Damit sind dort Arbeiterkinder auch vor dem Hintergrund der sozialen Verteilung an Hochschulen überrepräsentiert. Laut Bildungsbericht der Bundesregierung von 2018 stammen 47 Prozent der Studierenden aus Familien, in denen keiner der beiden Elternteile einen akademischen Abschluss hat. Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung legt damit mit 47 Prozent geförderten Erstakademikern quasi eine Punktlandung hin.
Staat zahlt Studiengebühren
Alle anderen Organisationen bleiben zum Teil deutlich unter dem Soll, angefangen bei der Stiftung der Deutschen Wirtschaft (43 Prozent) über die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung (40 Prozent), die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung (30 Prozent) bis hin zur FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung (28 Prozent).
Die Studienstiftung des deutschen Volkes als größtes und ältestes Begabtenförderungswerk kommt nach der taz-Erhebung auf 29 Prozent. Sie stand lange im Ruf, bei der Stipendienvergabe ausgesprochen elitär zu verfahren. Einst kamen bei ihr nur 21 Prozent „Arbeiterkinder“ zum Zug. Aber irgendwann war Schluss mit Besserung. Seit 2013 klebt die Stiftung bei einem Anteil von ungefähr 30 Prozent fest.
Bei all dem drängt sich die Frage auf: Warum bevorzugt das Gros der Förderer ausgerechnet diejenigen, die sich ein Studium von Hause aus auch ohne dieses ganze Mäzenatentum locker leisten könnten? Die Süddeutsche Zeitung (SZ) hat dieser Tage eine besonders krasse Spielart dieses zweifelhaften Begünstigungssystems thematisiert. Tatsächlich können danach die Förderwerke Auslandsaufenhalte ihrer Stipendiaten mit stattlichen Summen bezuschussen, darunter allein bis zu 10.000 Euro jährlich für die Begleichung von Studiengebühren.
Geschenke vom Steuerzahler
Die Zeitung beleuchtet den Fall einer jungen Frau, die an einer renommierten britischen Universität Philosophy, Politics and Economics studiert. Mit dem „prestigious degree“ könnten Absolventen „Premierminister von England“ werden, wird sie zitiert. Der Spaß schlägt jährlich mit 9.250 Pfund zu Buche, Geld das ihre Eltern – beide gutbezahlte Juristen – problemlos zu bezahlen bereit gewesen wären. Das konnten sie sich sparen, weil der deutsche Staat als Geldgeber der Studienstiftung des deutschen Volkes die Kosten komplett übernommen hat, einfach so, ohne jede Bedürftigskeitsprüfung. Allein im Vorjahr unterstützte sie so 6.004 Auslandsvorhaben mit im Schnitt 2.373 Euro, was sich auf über 14 Millionen Euro summiert.
Davon profitierten Erstakademiker besonders, heißt seitens der Stiftung, weil es diese oft in die Fremde führe. Das mag sein. Aber was ist mit den vielen anderen, denen das Geld ohne echten Bedarf hinterhergeworfen wird? Der deutschen Studentin im Königreich ist dann auch nicht ganz wohl dabei. „Für das viele Geld, das ich bekomme, hätte man in Deutschland gleich drei Stipendiaten das Studium finanzieren können.“ Kein Problem damit hat dagegen das Haus von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU), „weil hier die Förderung von Mobilität im Vordergrund steht und nicht die soziale Bedürftigkeit“. Entsprechend führt die Regierung auch nicht Buch darüber, wie viel Geld über die Werke in die Auslandsförderung fließt, so wenig wie dazu, wie viele eigentlich Nicht-Bedürftige zum Schaden des Steuerzahlers auf ihre Kosten kommen.
Bücher für den Millionärssprössling
Es werden fraglos reichlich sein und es werden immer mehr. Noch im Jahr 2005 erhielten die Förderwerke 80 Millionen Euro an öffentlichen Zuwendungen. Inzwischen sind es mindestens 266 Millionen Euro (Stand 2018). Obendrein wurde den Stipendiaten vor sieben Jahren nach dem Prinzip „mehr für wenige“ mit einem ungeahnten Geschenk übergeholfen. Als quasi letzte Amtshandlung hatte Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) das sogenannte Büchergeld von 80 auf 300 Euro hochgesetzt. Die Mittel bekommt jeder Geförderte, egal ob Diplomatensohn oder Tochter einer Krankenpflegerin.
In einer Petition protestierten selbst Empfänger der „milden Gabe“ gegen den Nacht-und-Nebel-Beschluss. Es half nichts, die Sache war rasch vergessen, so wie die Erinnerung daran, dass das Büchergeld einst der Anschaffung von Büchern gedient hatte. Der Begriff wurde kurzerhand gestrichen und durch „Studienkostenpauschale“ ersetzt. Neben der Anschaffung von Lern- und Hilfsmitteln sollten „auch studienbezogene Vorhaben wie etwa Sprachkurse oder der Besuch von einschlägigen Fachtagungen und Exkursionen ermöglicht werden“, verlautete vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Allerdings können für die Teilnahme an Sprachseminaren und andere Tagungen ohnehin gesondert Zuschüsse beantragt werden.
Rohrkrepierer Deutschlandstipendium
Schavan hat vor ihrer politischen Karriere bis 1995 als Geschäftsführerin das Cusanuswerk geleitet, das im Namen der katholischen Kirche Begabtenförderung betreibt. Gerade dieser Verein gilt als ausgesprochen elitär und hat, was die Unterstützung von „Arbeiterkindern“ angeht, bei besagter taz-Aufstellung mit einer Quote von 27 Prozent den vorletzten Platz inne. Schavan war es auch, die 2011 das sogenannte Deutschlandstipendium aus der Taufe gehoben hatte. Damit werden Studierende und Studienanfänger, „deren Werdegang herausragende Leistungen in Studium und Beruf erwarten lässt“, mit 300 Euro monatlich je zur Hälfte vom Staat und privaten Stiftern begünstigt.
Offiziell wollte die Ministerin das Instrument als „dritte Säule der Studienfinanzierung“ neben dem BAföG und Studienkrediten etablieren. Insgeheim brachte sie es aber gegen das BAföG in Stellung, als eine Art Trojanisches Pferd, um die staatliche Ausbildungsförderung weiter zugunsten der privaten Finanzierungskonzepte zu schwächen. Zumindest auf diesem Weg sind sie und ihre Amtsnachfolgerinnen und Parteifreundinnen, Johanna Wanka und Anja Karliczek, vorangekommen. Das BAföG steht in seiner Qualität und Reichweite so schlecht da wie nie. Das Deutschlandstipendium selbst ist der Rohkrepierer geblieben, der es vom ersten Tag an war. Von den gegenwärtig knapp 2,9 Millionen Studierenden werden nicht mehr als ein Prozent unterstützt. Jahr für Jahr werden weniger Mittel dafür aus dem Bundeshaushalt abgerufen, als eigentlich vorgesehen waren.
„Förderung für bessere Leute“
Fast schon erwartungsgemäß geht es bei der Vergabe dabei so sozial ungerecht zu wie bei den Begabtenförderungswerken. Wie gehabt sind Arbeiterkinder unter- und Akademikerkinder überrepräsentiert. Das ist ein Beleg mehr für die Vermutung, dass mit der „Stärkung der Stipendienkultur in Deutschland“ in Wahrheit einer mit dem Begriff der „Begabung“ verschleierten Elitisierung der Hochschulbildung Vorschub geleistet werden soll. Vor zehn Monaten hat die Süddeutsche Zeitung das Versteckspiel treffend beschrieben: „Die Bezeichnung ‚Begabtenförderung‘ legt nahe, dass die Elitenförderung eine gerechte Angelegenheit ist, so lange die Chance auf ein Stipendium unabhängig von der sozialen Herkunft ist“. Allerdings erweist sich Versprechen der Chancengleichheit regelmäßig als Augenwischerei, weshalb es nach SZ-Diktum aufrichtiger wäre, von „Förderwerken für den Nachwuchs der besseren Leute“ zu sprechen.
Apropos Ehrlichkeit: Im Gesetzestext zum Deutschlandstipendium ist unter dem Stichwort „Chancen für alle“ vermerkt, dass bei der „Gesamtbetrachtung des Potenzials“ auch „besondere soziale, familiäre oder persönliche Umstände“ zu berücksichtigen sind. Der Augsburger BWL-Professor Hans Ulrich Buhl hatte Mitte April in einem Brief an das BMBF angeregt, in der Pandemie neben der notenbasierten Auswahl von Stipendiaten deren soziale Bedürftigkeit als Kriterium heranzuziehen. Drei Wochen später erhielt er zur Antwort: Beim Deutschlandstipendium sei „die wirtschaftliche Bedürftigkeit als unzulässiges Kriterium für die Auswahl (...) zu werten“. Verstanden: So wenig Herz 🤍 muss sein – selbst in Zeiten des Notstands.
(rw)