Alte Probleme in neuem Look?BAföG-Digital startet in Pilotphase
Beim digitalen BAföG-Antrag geht es zwar auch um die digitale Unterschrift, es geht aber auch ohne.
Studis Online: Seit einer Woche können Schülerinnen, Schüler und Studierende in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz, Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen (NRW) Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) über den neuen digitalen Assistenten „BAföG-Digital“ beantragen. Wie das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mitteilte, soll das Angebot nach Abschluss der Pilotphase „sukzessive in jedem Bundesland verfügbar gemacht“ werden. Ist damit tatsächlich bald Schluss mit dem leidigen BAföG-Antragswirrwarr?
Achim Meyer auf der Heyde: Nun ja, zumindest ist das mal ein erster Schritt in die richtige Richtung und vom Grundsatz her zu begrüßen. Aber es sind schon noch einige weitere Schritte nötig.
Worin besteht konkret die Vereinfachung des Verfahrens?
Lassen Sie mich kurz den Rahmen abstecken: Bis zum 1. August 2016 mussten die 16 Bundesländer eine elektronische Antragsstellung ermöglichen. Das haben sie auch umgesetzt, allerdings in schönster föderaler Unterschiedlichkeit. Jedes Bundesland hatte seinen eigenen elektronischen Antrag, in dem nur die Hochschulen des jeweiligen Bundeslandes aufgeführt waren. Das war aber nicht der einzige Knackpunkt. Die händische Unterschrift sollte durch eine elektronische Identifikation ersetzt werden. Je nach Bundesland konnten die Studierenden den BAföG-Antrag per De-Mail – nach vorheriger Anmeldung – abschicken oder das Land konnte den Einsatz der elektronischen ID – eID – des Personalausweises vorgeben. Dafür musste man ein Kartenlesegerät haben.
Im September 2019 schaltete Apple seine NFC-Schnittstelle frei, so dass die eID seither auch vom Smartphone mit der Ausweis-App ausgelesen werden kann. Das Kartenlesegerät war damit nicht mehr nötig. Bei neueren Smartphones mit Android-Betriebssystem klappte das schon etwas früher. Man könnte das auch so interpretieren: Ohne dass Bund und Länder eine Verwaltungsvereinfachung beschlossen hätten, haben die Betriebssystemhersteller mit ihrem Aus für die Kartenlesegeräte eine Verwaltungsvereinfachung beim BAföG bewirkt ...
Was Sie mit gemischten Gefühlen sehen?
Ich will damit sagen, dass es schon einer gemeinsamen und abgestimmten Anstrengung von Bund und Ländern bedarf, um das BAföG klug zu digitalisieren. Dazu noch ein Schmankerl: Elektronische Unterschriften für Studierende waren also möglich, aber auch die Eltern müssen die BAföG-Formulare über ihr Einkommen ausfüllen und selbst unterschreiben. Und das ging dann doch am besten per Papier.
Und mit „BAföG-Digital“ wird nun alles besser?
Unser Interviewpartner Achim Meyer auf der Heyde ist Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks (DSW), in dem die 57 Studenten- und Studierendenwerke in Deutschland zusammengeschlossen sind.
Auch dazu muss ich weiter ausholen. Bis Ende 2022 sind Bund und Länder verpflichtet, Verwaltungsdienstleistungen elektronisch anzubieten, nach dem Online-Zugangsgesetz, OZG. Diese elektronischen Verwaltungsdienstleistungen soll es auf 16 Länderportalen geben, die dann zusammengefasst – parallel – auch auf einem Bundesportal angeboten werden. Auf dem Landes- oder Bundesportal meldet man sich an, mit Identifikation, Stammdaten und so weiter. Einmal angemeldet, muss man diese dann nicht mehr angeben, nach dem „once-only“-Prinzip. Bisher scheint es so, dass, sobald man von einem Bundesland in ein anderes umzieht, eine neue Identifikation mit Eingabe von Stammdaten erforderlich ist. Da das Bundesausbildungsförderungsgesetz bundesweit gilt, würde ich mich auf dem Bundesportal anmelden.
Was noch macht die neue Technik so neu?
Vor allem betrifft das die Umsetzung der analogen BAföG-Anträge in digitale. Man muss nicht mehr Felder ausfüllen, sondern Fragen beantworten – und am Ende kommt das ausgefüllte Formular heraus. Und ein großer Fortschritt ist eben auch, dass Bund und Länder sich auf eine einzige Umsetzung der elektronischen Antragstellung geeinigt haben.
Ist es für Sie schon einzuschätzen, ob die Technik auch das hält, was sie verspricht?
Das kann ich noch nicht einschätzen. Ich habe das Tool noch nicht ausprobiert.
Ein zeitlich begrenzter Pilotbetrieb zielt ja bekanntlich darauf ab, mögliche noch vorhandene Fehlerteufelchen aufzuspüren und zu eliminieren. Hätte es dafür gleich eines Massenversuchs mit Studierenden aus fünf Bundesländern gebraucht? Andersherum gefragt: Wenn jetzt schon alles so toll funktioniert, wie die Regierung es darstellt, warum machen dann nicht gleich alle 16 Bundesländer mit?
Sie haben recht: Es handelt sich um einen Pilotbetrieb, um Erfahrungen zu sammeln, um danach eine bundesweite Version auf den Weg bringen zu können. Es ist ein Test. Warum nicht gleich alle sechzehn Bundesländer eingebunden wurden, müssten Sie die Bundesregierung oder die Länder selbst fragen.
In der Presse war von einer sechsmonatigen Testphase zu lesen. In der Pressemitteilung des BMBF fehlt allerdings eine zeitliche Festlegung. Kennen Sie den konkreten Fahrplan?
Nein. Auch die Studenten- und Studierendenwerke wussten teilweise nichts von ihrem Glück. Sie haben es kurzfristig am Morgen der BMBF-Pressekonferenz von ihrem Bundesland erfahren. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Studentenwerke haben aber in der Entwicklungsphase ihre Expertise einbringen können.
Sie sprachen anfangs von einem „ersten Schritt“. Welche weiteren Schritte müssen aus Ihrer Sicht noch folgen?
Es handelt sich um eine Umsetzung des bestehenden BAföG, das zu unserem Bedauern in sehr unregelmäßigen Abständen lediglich eine unzureichende Anhebung der Bedarfssätze und Freibeträge erfährt. Wirklich strukturell verbessert wird nichts. Seit im Jahr 2010 der Normenkontrollrat eine Verwaltungsvereinfachung anmahnte, hat der Bund die veralteten Verwaltungsvorschriften – also auf untergeordneter Ebene – etwas entschlackt. Aber an das übergeordnete Gesetz ist man nicht rangegangen, hat es nicht gründlich entbürokratisiert.
Das heißt: Wenn ein Paragraph kompliziert ist, viele Anforderungen enthält, zieht sich das weiterhin bis heute durch, auch in der digitalisierten Fassung. Wenn Sie einen komplizierten Prozess digitalisieren, haben Sie am Ende einen komplizierten digitalen Prozess. Wir brauchen aber eine echte Verwaltungsvereinfachung beim BAföG, und sinnvoller Weise macht man das, bevor man digitalisiert!
Das Angebot ist also nur eine „Überführung“ des analogen Verfahrens ins Digitale? Inhaltlich ändert sich bei all dem nichts?
Man hat eine schicke digitale Hülle geschaffen – mehr nicht. Was bedeutet das für die jetzige Digitalisierung? Bildlich müssen Sie sich das so vorstellen: Wenn im BAföG-Gesetz in einem Paragraphen sieben Anforderungen stehen, dann werden Sie in den BAföG-Formularen zur Abfrage dieser Anforderungen mindestens sieben Ausfüllfelder benötigen. Digitalisieren sie allein die Formulare, haben Sie weiterhin sieben Ausfüllfelder oder Fragen. Wenn die Anforderungen im BAföG-Gesetz von sieben auf drei reduziert werden könnten, würde dies die Dauer der Antragstellung – sowie die Antragsbearbeitungsdauer im BAföG-Amt – tatsächlich vermindern.
Heißt das, dass mit einer Beschleunigung des Prozesses, im Sinne einer am Ende schnelleren Bewilligung, auf Basis des neuen digitalen Verfahrens nicht zu rechnen ist?
Lassen Sie es mich so ausdrücken: Wenn der digitale Antragsassistent, zum Beispiel über integrierte Plausibilitätsprüfungen, dazu führt, dass die Qualität der Anträge steigt, sie also vollständig eingereicht werden, mit sämtlichen erforderlichen Anlagen – dann kann das die Bearbeitungszeit insofern schon verkürzen, als dann die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter in den BAföG-Ämtern der Studenten- und Studierendenwerke nicht mehr so oft Unterlagen nachfordern müssen. Ich bin vorsichtig optimistisch, dass so ein Effekt eintreten könnte.
Kritik, die der ihren gleicht, kommt auch vom „freien zusammenschlusses von student*innenschaften“ (fzs). „Sinnvoll wäre es gewesen, zunächst den BAföG-Antrag zu vereinfachen und ihn danach zu digitalisieren. So bleiben viele Hürden bei der Beantragung bestehen“, beklagte der Verband in einem Statement. Das würden Sie unterschreiben?
Ja, sofort – wir fordern das selbst schon seit Jahren.
An welchen Punkten genau sehen Sie noch Entschlackungspotenzial?
Das BAföG ist auf die berühmte deutsche Einzelfallgerechtigkeit getrimmt. Die Frage ist, an welchen Stellen eine stärkere Pauschalisierung einfacher wäre, um den Preis einer gewissen Ungerechtigkeit. Ein anderes Beispiel: Zu dem BAföG-Paragrafen, der festlegt, was als Einkommen zählt, gibt es eine extra BAföG-Einkommensverordnung, wo noch viel mehr Einkommensarten drinstehen. Man könnte hingehen und sagen: „Alles, was nicht irgendwo im Einkommensteuerbescheid – auch nachrichtlich – drinsteht, interessiert uns nicht. Hat das Finanzamt festgestellt – so soll es sein.
Wenn die BAföG-Ämter sowieso die Einkommensteuerbescheide in Kopie erhalten, haben sie Kenntnis vom Inhalt. Was spricht also dagegen, den BAföG-Ämtern Zugriff auf diese Entscheidung des Finanzamts zu verschaffen. Es geht allein um den Bescheid. Damit niemand unbefugt irgendwelche Bescheide einsieht, kann ja die ID der Abrufenden mit Zeitangaben dokumentiert werden.
Erklärte Absicht von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) ist es ja, eine „Trendumkehr“ hin zu einer wieder stärkeren Attraktivität des BAföG zu schaffen. Ist Sie auf einem guten Weg?
Das ist leider kein erfreuliches Kapitel. Bereits 2014 hat die damalige Bundesregierung für das Jahr 2016 mit einer Anhebung von jeweils sieben Prozent 100.000 neue BAföG-Geförderte versprochen. Das hat sich nicht realisiert. 2019 hat die Bundesregierung bis 2021 erneut 100.000 neue BAföG-Geförderte versprochen. Ab Herbst 2019 wurden die BAföG-Freibeträge um sieben Prozent angehoben, die Bedarfssätze um fünf Prozent. Das Ergebnis für die vergangenen drei Monate 2019 war das gleiche wie 2016: Der Rückgang beim BAföG hat sich abgeschwächt, wir sind aber weiterhin im Sinkflug. Und das seit inzwischen sieben Jahren!
Aber ein Teil der 2019er-Reform steht ja noch aus und bereits erfolgte Schritte sollen laut Karliczek noch nachwirken ...
Eine Garantie für ein Herumreißen des Steuers mit einer Anhebung der Freibeträge um drei Prozent zum Herbst 2020 und sechs Prozent zum Herbst 2021 sowie einer weiteren zweiprozentigen Zugabe bei den Bedarfssätzen zum Herbst 2020 würde ich nicht abgeben wollen. Wir halten die Anhebungen schlicht für zu gering.
Auch ist wichtig, dass mit dem BAföG immer weniger die Hochschul- und Lebensrealität der Studierenden erfasst wird, zum Beispiel bei einem Teilzeitstudium. Wer sein Bachelor-Studium mit 30 oder sein Master-Studium mit 35 Jahren beginnt, für den ist fast sicher von vornherein klar: Da ist keine BAföG-Förderung möglich. Das Dumme ist nur, für immer mehr Studierende ist so keine BAföG-Förderung möglich. Das muss sich ändern.
Oder nehmen Sie die Kopplung der BAföG-Höchstförderungsdauer an die Regelstudienzeit. Weniger als 40 Prozent der Studierenden schaffen es, ihr Studium in der Regelstudienzeit zu beenden, die große Mehrheit braucht länger. Warum also dann nicht beim BAföG die Förderungshöchstdauer um mindestens ein Semester, besser zwei Semester verlängern?
Zum Abschluss noch ein Schwenk zur Corona-Krise. Für viele Studierende könnte der jetzt begonnene „Lockdown light“ so hart werden wie der erste umfassendere im Frühjahr. Wieder macht die gesamte Gastronomie dicht und wieder dürften dabei massenhaft Studentenjobs verloren gehen. Was erwarten Sie von der Bundesregierung?
Dass sie nun alsbald einen Notfallmechanismus im staatlichen Studienfinanzierungssystem integriert, sprich eine Öffnung des BAföG in den Bundestag einbringt – wie es die Länder im April 2020 parteiübergreifend auch gefordert haben. Wir können uns in einer andauernden Pandemiesituation nicht von Überbrückungshilfe zu Überbrückungshilfe hangeln. Zudem haben wir im Sommer einmal mehr erfahren müssen, dass wir für Studierende in Notlagen eine strukturelle Reform der Studienfinanzierung brauchen – für beides kann dauerhaft nur das wichtigste Instrument der staatlichen Studienfinanzierung genutzt werden. (rw)