160 Millionen für NixRegierung lässt BAföG-Mittel verfallen
Oh no! Wie schon 2019 verfallen auch 2020 BAföG-Mittel ungenutzt.
Am 1. September 2021 wird das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) 50 Jahre alt. Wenn das kein Grund zum Feiern ist. Hat sich auch Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) gedacht und zum fröhlichen Nostalgieplausch mit glücklichen „Bildungsaufsteigern“ aus einem halben Jahrhundert gelebter „Chancengerechtigkeit“ geladen. Der „Jubiläumstalk“ steigt in zwei Wochen, verspricht allerhand „individuelle Erfolgsgeschichten“ und läuft unter dem Motto „Karliczek trifft...“.
Was es freilich nicht ganz trifft: Denn wie üblich in Corona-Zeiten kommen Feiernde und Gefeierte bloß digital zusammen, im virtuellen Partykeller also, wo die „schöne neue Welt“ heimisch ist und die raue Wirklichkeit Hausverbot hat. Welche Musik dort spielen wird, lässt sich denn auch der „Einladung“ entnehmen, die der Pressestab des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) Ende der Vorwoche unter die Leute brachte.
Eitel Sonnenschein
In der Ankündigung gibt es eitel Sonnenschein satt. Zum Beispiel: „Für viele Menschen hat das BAföG die Türen geöffnet, um Berufsträume wahr werden zu lassen.“ Oder: „Geförderte haben als erste in ihrer Familie studiert, nach einem Studium auf dem zweiten Bildungsweg ein Erfolgsunternehmen gegründet, im Auslandsjahr die große Liebe getroffen oder einfach nur konzentriert studiert.“ Und zur Krönung noch dieses Karliczek-Zitat: „Wenn wir das BAföG nicht hätten, müssten wir es erfinden.“
Ganz besonders erfinderisch macht bekanntlich die Not, wovon es gerade in der Pandemie ganz besonders viel gibt. Studierende verloren während zweier Lockwdowns massenweise Jobs, vielen wurde die Unterstützung aus dem Elternhaus gekürzt oder gestrichen, Rechnungen bleiben unbezahlt, zu Essen gibt`s nur Dosenravioli, Freunde und Spaß praktisch gar nicht mehr und studiert wird bis auf weiteres eher schlecht als recht vorm Bildschirm.
Angesichts dessen hatten Studierenden- und Bildungsverbände, Gewerkschaften und die Opposition im Bundestag schon zu Anfang der Krise gefordert, das BAföG temporär auch für diejenigen zu öffnen, die sonst keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung haben. Oder, wie das Deutsche Studentenwerk (DSW) empfiehlt, im Rahmen des BAföG einen Notfallmechanismus zu institutionalisieren, der im Falle außergewöhnlicher Notlagen wie der aktuellen greift, um junge Menschen vor dem finanziellen Absturz und davor zu bewahren, ihr Studium aus Gründen höherer Gewalt hinschmeißen zu müssen.
Die Bank dankt
Ministerin Karliczek blockte alle diese Vorschläge knallhart ab und zog ihr eigenes Ding durch: Statt den BAföG-Zugang zu erleichtern, schickte sie die Leidtragenden zur Bank und bei Abschluss eines befristet zinsfreien Studiendarlehens der Kredit Anstalt für Wiederaufbau (KfW) in die Schuldenfalle. Das hat sich gelohnt – für die Bank versteht sich. Der „deutliche Anstieg“ beim Förderschwerpunkt Bildung „basierte vor allem auf Produktanpassungen im KfW-Studienkredit als Corona-Hilfsmaßnahme“, frohlockte das Management jüngst bei der Bilanzpressekonferenz zum Geschäftsjahr 2020. Belief sich die Fördersumme 2019 noch auf 0,7 Milliarden Euro, waren es im Vorjahr 1,3 Milliarden Euro, nahezu doppelt so viel.
Wobei „Förderung“ nach Bankermanier selbstredend Geschäftemacherei meint und mit „Ausbildungsförderung“ im Sinne der BAföG-Erfinder nichts gemein hat. Als die vor 50 Jahren damit loslegten, erhielt man die Zuwendungen als staatlichen Vollzuschuss mit dem ausdrücklichen Anspruch, daraus seinen Lebensunterhalt komplett bestreiten zu können. Davon sind die Verhältnisse heute so weit weg wie die Ministerin von ihrer Verheißung, eine „Trendumkehr“ bei der Gefördertenzahlen einzuleiten.
Statt dessen ist auch mit ihrer „großen“ Reform vor eineinhalb Jahren der Kreis der Begünstigten dramatisch kleiner geworden: um 5,5 Prozent im Jahr 2019 gegenüber dem Jahr 2018, das wiederum mit sieben Prozent Schwund gegenüber 2017 zu Buche geschlagen hatte. So geht das seit etlichen Jahren und weder Karliczek noch ihre beiden Amtsvorgängerinnen Annette Schavan und Johanna Wanka (beide CDU) haben die Talfahrt gestoppt. Und das, obwohl sich alle drei immer wieder zu glühenden Anhängerinnen des BAföG (v)erklärt haben.
Die Gescheitertste
Den Titel der Gescheitertsten im Trio der Gescheiterten hat sich aber ohne Frage Karliczek verdient. Nicht nur, weil ihre Minusbilanz den Anteil der Geförderten unter allen Studierenden auf den historischen Tiefststand von elf Prozent abschmieren ließ. Zum Vergleich: 1972 erhielten über 44 Prozent aller Hochschüler Fördermittel. Vor allem verdankt sich ihre Ausnahmestellung der Corona-Ausnahmesituation. Diese hat die Mängel und Grenzen des BAföG in großer Klarheit aufgezeigt und zwingt geradezu zum Umdenken dahingehend, das Angebot qualitativ und quantitativ attraktiver und bislang unberücksichtigten Gruppen zugänglich zu machen.
Es braucht also nicht einfach nur mehr Geld und höhere Elternfreibeträge, sondern den Wegfall von Altersgrenzen, einen besseren Zuschnitt auf individuelle Lebenslagen (zum Beispiel bei Zweit- oder Teilstudium, Kindererziehung, Pflege von Angehörigen), eine über die Regelstudienzeit hinausgehende Förderdauer sowie Anschlussförderungen bei Studienabbruch und -fachwechsel. All diese Rezepte hat Karliczek mit ihrer 2019er-Novelle links liegen lassen, obwohl Experten schon seit langem eine strukturelle Runderneuerung des Systems anmahnen.
Was die Sache noch schlimmer macht: Statt wenigstens in der Corona-Krise von ihrer Linie abzuweichen, legte sie eher widerwillig und pflichtschuldig eine „Überbrückungshilfe für akut notleidende Studierende“ auf, die mit ihren bürokratischen Fallstricken und der unzureichenden finanziellen Ausstattung über weite Strecken am Bedarf vorbeigeht. In den Genuss von Zuschüssen in Höhe von maximal 500 Euro monatlich kommt man nur bei absoluter Mittellosigkeit (Kontostand unter 100 Euro) und auch nur dann, wenn die Notsituation nachweislich pandemiebedingt eintrat. Anfangs stellte Karliczek dafür 100 Millionen Euro bereit und bewilligte schließlich erst nach langem Zögern mehr. Auch für eine Verlängerung der Hilfsleistung über den Winter hinaus musste sie erst bekniet werden.
Millionen für Olaf Scholz
Zurück zum BAföG und dem, was davon übrig ist, beziehungsweise übrig bleibt. Wie dieser Tage bekannt wurde, hat die BMBF-Chefin aus den ihr dafür zugeteilten Haushaltsmitteln mal eben 160 Millionen Euro ans Bundesfinanzministerium zurücküberwiesen. Soll heißen: Die Ministerin ließ das schöne Geld auf Kosten derer verfallen, die es dringend nötig gehabt hätten.
Nach einem Zeitungsbericht wurden 2020 sogar 360 Millionen Euro weniger für die Sozialleistung aufgewendet, als der Bildungs- und Forschungsetat dafür hergab. Dabei setzte Karliczek diese sogenannten Minderabflüsse nur teilweise für die „Überbrückungshilfe“ ein. Rund 134 Millionen Euro gingen demnach an die Studierendenwerke, weitere 66 Millionen Euro wurden für den KfW-Studienkredit aufgewendet. Über den Rest durfte sich Finanzminister Olaf Scholz (SPD) freuen.
Der Vorgang hat schlechte Tradition. 2019 war die Bildungsministerin sogar auf 900 Millionen Euro BAföG-Mitteln sitzen geblieben, wovon am Ende zwei Drittel wieder in den Scholz-Kassen landeten. Studierendenvertreter hatten deshalb im Frühjahr 2020 verlangt, die Überschüsse in die Corona-Hilfen zu stecken. Nicht nur geschah das nicht. Wie sich jetzt zeigt, hat die Bundesregierung keinen einzigen Euro extra für ihren Nothilfefonds locker gemacht, sondern aus vorhandenen Beständen abgezweigt und von diesen auch noch Teile in den Sparstrumpf gesteckt.
„Bildungsministerin der Reichen“
„Schönen Dank für nichts“, kommentierte Andreas Keller, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Hunderttausende Studierende hätten eine Finanzspritze dringend gebraucht, „etwa jene, die bei der Überbrückungshilfe durch die Maschen fallen“, bemerkte er am Dienstag gegenüber den Studis Online. Damit erweise sich das Angebot „nicht nur als halb-, sondern auch als hartherzig“.
„Die soziale Lage der Studierenden scheint der Ministerin vollkommen egal zu sein“, befand Oliver Nerger vom Bundesvorstand der Juso-Hochschulgruppen in einer Medienmitteilung. Es sei ein „Skandal“, Hunderte Millionen Euro ungenutzt liegen zu lassen, „während sich Tausende Studierende in einer bisher nie da gewesenen existenziellen Krise befinden“. Man male sich aus, was für die Betroffenen mit den Reserven mehr drin gewesen wäre. Damit hätte man etwa den Kreis der Anspruchsberechtigten deutlich ausweiten oder die Fördersummen glatt verdoppeln können.
Entsprechend empört äußerte sich Nicole Gohlke, hochschulpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke. „Karliczek ist Bildungsministerin der Reichen und pfeift auf die Studierenden in finanzieller Not“, beklagte sie im Gespräch mit Studis Online. „Bis dato hat die Bundesregierung kein tragfähiges Konzept vorgelegt, das bei Nebenjobverlust, struktureller Armut und Studienabbrüchen hilft. Und das in der größten Bildungskrise der bundesdeutschen Geschichte.“
Für „skandalös“ hält auch Kai Gehring von der Grünen-Bundestagsfraktion die Vorgänge. Der Ministerin fehle „jedweder sozialer Kompass!“, sagte er Studis Online. „Die Überbrückungshilfe hilft und überbrückt nicht, fast 90 Prozent erhalten kein BAföG, Studienkredite gehen durch die Decke“, gab er zu bedenken und weiter: „Da ist eine desaströse Entwicklung und unterlassene Hilfeleistung.“
Weg mit der Märchentante!
Wo die Ministerin gerade so schön am Feiern ist, bekommt sie auch noch reichlich Wein eingeschenkt – allerdings reinen. „50 Jahre nach seinem Inkrafttreten ist das BAföG auf den Hund gekommen“, betonte GEW-Vize Keller. Karliczek solle das Geld „schleunigst beim Finanzminister loseisen und eine echte BAföG-Reform auf den Weg bringen – am besten mit einer Krisenklausel, die eine unbürokratische Öffnung für alle im Falle einer Pandemie oder ähnlichen Notlage vorsieht“.
Für einen „Neustart“ plädierte auch Gehring, „mit einem elternunabhängigen Garantiebetrag, ergänzt um einen einkommensabhängigen Bedarfszuschuss“. Den „historischen BAföG-Sinkflug“ kehre man nur um, „wenn eine ordentliche Schippe draufgelegt wird und mehr Studierende in die Förderung kommen“, bekräftigte Linke-Politikerin Gohlke.
Und was meint die Adressatin auf dem BMBF-Thron? „Damals wie heute gilt: Es ist nicht nur für das persönliche Lebensglück wichtig, die eigenen Talente zu entfalten. (...) Deutschland kann als Innovationsland nur Erfolg haben, wenn möglichst viele Menschen ihre Fähigkeiten und Ideen einbringen – deshalb ist die Erfolgsstory BAföG noch längst nicht auserzählt.“ Und wenn Sie nicht gestorben sind ... Zum Schluss ein gutgemeinter Rat an die Bundeskanzlerin: Setzen Sie die Märchentante ab. (rw)