„Versagen bestätigt!“Karlsruhe prüft BAföG-Bedarfssätze
Das Bundesverwaltungsgericht sieht die Höhe des BAföGs kritisch und bittet das Bundesverfassungsgericht um Prüfung.
Reichen die nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) bewilligten Leistungen, um damit als Schüler oder Student über die Runden zu kommen? Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mit Sitz in Leipzig hat daran erhebliche Zweifel. Keine Fragen offen lässt der am Donnerstag getroffene Beschluss allerdings mit Blick auf die vor sieben Jahren geltenden Regelsätze. „Nach Überzeugung“ der Richter sei deren Festlegung „im Zeitraum von Oktober 2014 bis Februar 2015 mit dem verfassungsrechtlichen Teilhaberecht auf gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Ausbildungsangeboten nicht vereinbar“. Ob sich daraus für den Gesetzgeber die Verpflichtung zu einer Neubemessung der staatlichen Hilfen ergibt, muss nun das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) klären.
Bei Studierenden- und Bildungsverbänden löste das Urteil Freude und Genugtuung aus. Die Überweisung des Vorgangs zum obersten deutschen Gericht sei „Wasser auf unsere Mühlen“, äußerte sich am Freitag der Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks (DSW), Achim Meyer auf der Heyde. Gegenüber Studis Online befand er: „Seit Jahren fordern wir die Bundesregierung auf, den Bedarfssatz der Studierenden empirisch sauber festzustellen und nicht einfach fortzuschreiben.“ Carlotta Kühnemann vom freien „zusammenschluss von student*innenschaften“ (fzs) bekräftigte: „Der BAföG-Satz muss die Existenz sichern. Denn was bringt eine Ausbildungsförderung, die nicht ausreicht, um alle Ausgaben während eines Studiums zu decken?“
Vorinstanzen überstimmt
Zur Verhandlung in Leipzig stand der Fall einer früheren Psychologiestudentin aus Osnabrück. Sie hatte im Zeitraum vom Oktober 2014 bis Februar 2015 BAföG-Zuwendungen in Höhe von zunächst 176 Euro und später 249 Euro monatlich erhalten. Weil das Einkommen ihrer Eltern die seinerzeit wirksamen Freibetragsgrenzen überstieg, blieben ihre Ansprüche deutlich hinter dem sogenannten Grundbedarf von damals 373 Euro zurück. Die entsprechenden Bescheide griff die Klägerin jedoch mit der Begründung an, die Förderung sei in verfassungswidriger Weise zu niedrig bemessen.
In den beiden Vorinstanzen wurde ihr Antrag jeweils zurückgewiesen. Zuletzt hatte im November 2018 das Oberverwaltungsgericht Lüneburg geurteilt, der Gesetzgeber habe „bei der Festlegung des monatlichen Bedarfs für Auszubildende in Höheren Fachschulen, Akademien und Hochschulen auf 373 Euro die sich aus dem Grundgesetz ergebenden Anforderungen beachtet“. Ohnedies gebe „das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (...) dem Einzelnen keinen Anspruch auf individuelle Leistungen zur Förderung“ einer akademischen Ausbildung.
Dieser Auffassung widersprechen die Bundesverwaltungsrichter in großer Deutlichkeit. Wie es in dem Entscheid heißt, ergebe sich aus dem Grundgesetz die Pflicht des Staates, Kindern einen gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Ausbildungsangeboten unabhängig von den Besitzverhältnissen der Eltern zu ermöglichen. Dieser sei so zu gestalten, „dass soziale Gegensätze hinreichend ausgeglichen werden und soziale Durchlässigkeit gewährleistet wird“. Insbesondere argumentiert das Gericht mit dem Anspruch auf ein „ausbildungsbezogenes Existenzminimum“, der zu gewährleisten und gegen den im konkreten Streifall verstoßen worden sei.
Hartz-IV als Richtgröße
Als Richtgröße für eine Anpassung der BAföG-Sätze schweben der Klägerin die Leistungen zur „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ nach dem Sozialgesetzbuch II (Hartz-IV) vor. Der Regelsatz beläuft sich aktuell auf 446 Euro, während der Grundbedarf beim BAföG 427 Euro beträgt. Mit Zuschlägen zur Kranken- und Pflegeversicherung sowie der Wohnpauschale stehen alleinstehenden Studierenden maximal 861 Euro zu. Eine Benachteiligung gegenüber Hartz-IV-Beziehern ergibt sich insbesondere aus dem starren Wohnzuschuss, der seit 2019 bei 325 liegt.
Für einen Platz in einem staatlichen Wohnheim genügt das Geld durchaus. Auf dem freien Wohnungsmarkt, insbesondere in Großstädten und Ballungsgebieten, kommt man damit aber nicht weit. In München zum Beispiel blättert man im Schnitt weit über 600 Euro für ein WG-Zimmer hin. Ein BAföG-Empfänger muss also mithin 300 Euro und mehr aus seinem Grundbedarf abzweigen, um überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Hartz-IV-Zuschläge für Unterkunft und Heizkosten orientieren sich dagegen am örtlichen Mietspiegel und werden im Fall der „Angemessenheit“ komplett übernommen.
Ob die seit der jüngsten BAföG-Reform von 2019 bewilligten BAföG-Förderbeträge den Erfordernissen gerecht werden, ließen die Leipziger Richterinnen und Richter offen. Tatsächlich ist eine solche Einschätzung nach Lage der Dinge auch gar nicht möglich, weil, wie das Gericht monierte, die politisch Verantwortlichen bei der Festsetzung der Sätze mit verdeckten Karten spielen. Formal erfolgt die Bedarfsermittlung auf der Grundlage der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, die turnusmäßig alle vier Jahre vorgelegt wird..
Mangelhaftes Bemessungsverfahren
Während die Vorinstanzen dieses Vorgehen noch als „ausreichend“ bewertet hatten, gelangt das BVerwG zu einem anderen Schluss. So sei zu prüfen, ob „der Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums ein zur Bemessung taugliches Berechnungsverfahren gewählt hat, ob er die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und schließlich, ob er sich in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt hat“. Dieser Prüfung halte der „streitige Bedarfssatz nicht stand“.
So lasse sich nicht einmal erkennen, zu welchen Teilen der Grundbedarfssatz die Ausbildungskosten und zu welchen den Lebensunterhalt abdecken soll. Zudem fehle es „an der im Hinblick auf die Lebenshaltungs- und Ausbildungskosten gebotenen zeitnahen Ermittlung des entsprechenden studentischen Bedarfs“. Im konkreten Fall habe der Festsetzung „aus dem Jahre 2010, die bis 2016 galt, eine Erhebung aus dem Jahr 2006“ zugrunde gelegen.
Reichlich „veraltet“ erscheint so auch die seit August 2019 wirksame 26. BAföG-Novelle in der Zuständigkeit von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU). Die damit veranschlagten Bedarfssätze und Elternfreibeträge wurden auf Grundlage der 21. Sozialerhebung ermittelt, die auf empirischen Daten aus dem Jahr 2016 gründet. Nach Berechnungen des DSW hätte der Grundbedarf jedoch schon damals „mindestens zwischen 500 und 550 Euro betragen müssen“, wie Meyer auf der Heyde betonte. Kritiker hätten deshalb schon beim Inkrafttreten der Reform vor einer massiven Mangelausstattung und davor gewarnt, dass mit dieser „halbherzigen“ Reform die von Karliczek versprochene „Trendumkehr“ bei den Gefördertenzahlen nicht zu schaffen sei.
Gefördertenzahlen im freien Fall
Sie sollten Recht behalten: Die Erosion beim BAföG ging in den zurückliegenden zwei Jahren ungebremst weiter. Gegenwärtig beziehen weniger als zwölf Prozent aller knapp drei Millionen Hochschüler in Deutschland entsprechende Leistungen. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte sein, dass die unzulänglichen Auszahlungen immer mehr junge Menschen vor einem Antrag abschrecken. Konzipiert war das BAföG ursprünglich zu dem Zweck, daraus seinen gesamten Lebensunterhalt bestreiten zu können. Heute ist die Sozialleistung in vielen Fällen nur mehr eine zweite Einnahmequelle neben dem Studentenjob.
„Es ist eine Zumutung, dass wir Studierende weniger Leistungen bekommen, als nach dem Grundgesetz geltenden Existenzminimum üblich“, beklagte fzs-Vorstandsmitglied Jonathan Dreusch heute in einer Pressemitteilung. Insofern sei das „Versagen der Bundesregierung gerichtlich bestätigt“. Sabine Giese von der Konferenz Sächsischer Studierendenschaften (KSS) gab ferner zu bedenken, dass das BAföG im Gegensatz zu anderen Sozialleistungen „nicht dynamisiert und damit nicht gemäß der steigenden Inflation automatisch angepasst wird“. Das Bundesbildungsministerium habe „nicht nur jahrelang regelmäßige Berichte und Anpassungen versäumt, es ignoriert auch den grundlegenden Reformbedarf“.
Ohrfeige für Karliczek
KSS und fzs waren am Donnerstag mit einer Delegation vor Ort in Leipzig, die mit einer Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude auf ihre Lage aufmerksam machte. Mit dabei war auch fzs-Vorstand Kühnemann. Immer mehr Studierende befänden sich „in einer finanziell prekären Lage“, sagte sie Studis Online. Die Pandemie habe diese Entwicklung aufgedeckt und noch weiter verstärkt. „Wir fordern ein BAföG, das zum Leben reicht und sind diesem Ziel mit dem Urteil einen Schritt nähergekommen.“
Über einen „Durchbruch für Bildungsgerechtigkeit“ und eine „Watschen für die Bundesregierung“ freute sich Nicole Gohlke von der Bundestagsfraktion Die Linke. „Ich hoffe, dass sich das Bundesverfassungsgericht dem Urteil schnell anschließt, damit die BAföG-Reform im kommenden Jahr Studierende zuverlässig vor Armut schützt.“ Spätestens ab dem Herbst 2022 müsse der BAföG-Satz die realen Bedarfe abdecken. Die Linkspartei hatte schon in der aktuellen Wahlperiode eine Anhebung des Regelsatzes auf mindestens 560 Euro gefordert. „Ein Studium wird sonst für arme Studierende selbst mit Nebenjobs vielerorts nicht mehr möglich sein“, befürchtet Gohlke.