Schluss mit SchmalspurförderungBAföG vorm höchsten Gericht
Wie wird das Bundesverfassungsgericht in Sachen BAföG entscheiden und wird es am Ende wirklich mehr Geld geben?
Studis Online: Mit Beschluss vom Donnerstag der Vorwoche hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig erhebliche Zweifel am Verfahren zur Bemessung der Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) angemeldet und den Fall Ihrer Mandantin dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur Prüfung vorgelegt. Studis Online hatte darüber am 21. Mai berichtet. Hatten Sie mit diesem Ausgang gerechnet?
Joachim Schaller: Ich habe darauf gehofft. Wäre es anders gekommen und kein Vorlagebeschluss ergangen, hätte ich gegen ein negatives Urteil Verfassungsbeschwerde erhoben.
Konkret drehte sich das Verfahren um die Höhe des BAföG-Grundbedarfs auf dem Niveau des Jahres 2015. Das waren damals 373 Euro. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass es in Karlsruhe um Grundsätzlicheres gehen wird?
Es wird auf jeden Fall um Grundsätzliches gehen, nämlich um die Frage, ob die Ermittlung des BAföG-Bedarfssatzes den verfassungsrechtlichen Maßstäben genügt. Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass das Bundesverfassungsgericht sich der Sichtweise des Bundesverwaltungsgerichts anschließen und das Verfahren zur Festlegung des BAföG-Bedarfssatzes beanstanden wird.
Stützt sich Ihre Zuversicht auf Erfahrungswerte?
Tatsächlich wurde Karlsruhe bisher nur äußerst selten vom Bundesverwaltungsgericht angerufen. Insofern bildet der Vorgang eine absolute Ausnahme. Man sollte sich allerdings die Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht zum Sozialgesetzbuch II im Jahr 2010 sowie zum Asylbewerberleistungsgesetz im Jahr 2012 in Erinnerung rufen. Auch dabei ging es um die Frage, ob und inwieweit die Leistungen für Hartz-IV-Empfänger beziehungsweise Asylsuchende den Vorgaben des Grundgesetzes entsprechen. Beide Male wurden die Regelsätze höchstrichterlich als zu niedrig beanstandet. Die Fälle haben große Ähnlichkeit mit dem, worum es auch bei BAföG geht, weshalb ich davon ausgehe, dass Karlsruhe eine Grundsatzentscheidung treffen wird zur Frage: Gibt es ein ausbildungsbezogenes Existenzminimum und wenn ja, wie ist dieses zu ermitteln?
Die Leipziger Richter heben in Ihrem Beschluss wiederholt auf den Anspruch eines „ausbildungsbezogenen Existenzminimums“ ab, der im konkreten Fall vom Gesetzgeber nicht eingelöst worden sei. Ist das ein neuer Rechtsbegriff und wie grenzt sich dieser vom sonst gebräuchlichen „menschenwürdigen Existenzminimum“ ab?
Unser Interviewpartner Joachim Schaller (Jahrgang 1962) ist Rechtsanwalt in Hamburg und befasst sich schwerpunktmäßig mit Hochschul-, Arbeits- und Sozialrecht. Er kommentiert im BAföG-Kommentar „Ramsauer/Stallbaum“ unter anderem die Bedarfssätze und vertritt eine ehemalige Psychologiestudentin, für die er in der Vorwoche einen Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des BAföG-Bedarfssatzes für Studierende erstritten hat.
Ja, das ist ein neuer Begriff. Nach den Ausführungen in der mündlichen Verhandlung neigt das Gericht wohl zu der Auffassung, dass sich Studierende und andere Auszubildende nicht unmittelbar auf das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, abgeleitet aus Artikel 1 des Grundgesetzes und dem Sozialstaatsprinzip, berufen können. Die Richter stellen nicht auf das Prinzip der Menschenwürde ab, sondern verweisen auf das Teilhaberecht auf gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Ausbildungsangeboten unabhängig von den Besitzverhältnissen der Eltern. Aus ihrer Sicht besteht ein Grundrecht auf Gewährleistung eines ausbildungsbezogenen Existenzminimums zumindest für diejenigen, die vom Gesetzgeber als förderwürdig und -bedürftig anerkannt werden.
Die Hartz-IV-Regelsätze sollen ein menschenwürdiges Existenzminimum sicherstellen. Sehen Sie Hinweise dafür, auf welchem Niveau sich verglichen damit ein ausbildungsbezogene Existenzminimum bewegen könnte, sollte Karlsruhe den Argumenten des Bundesverwaltungsgericht folgen?
Das ist schwer zu sagen. Wichtig ist zunächst, dass die Richter die Notwendigkeit eines eigens festzulegenden Ausbildungsbedarfs sehen. Ein Kritikpunkt lautet, dass nicht ersichtlich ist, zu welchen Teilen der BAföG-Grundbedarfssatz die Ausbildungskosten und zu welchen den Lebensunterhalt abdeckt. Ich selbst halte es für geboten, dass der Bedarf von Studierenden valide und regelmäßig ermittelt wird und dazu der Gesetzgeber – wie auch im SGB II, im SGB XII und im Asylbewerberleistungsgesetz – konkret und nachvollziehbar festlegt, was dafür erforderlich ist.
Müsste BAföG-Empfängern in diesem Fall dann nicht das zustehen, was auch Hartz-IV-Bezieher bekommen?
Wir haben ja das Problem, dass schon bei der Festsetzung der Regelbedarfe nach SGB II sowie bei der Sozialhilfe nach SGB XII der Gesetzgeber ganz viele eigentlich regelbedarfsrelevante Positionen aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe herausgerechnet hat. Zum Beispiel steht den Betroffenen kein Bier oder Glas Wein und auch kein Weihnachtsbaum zu. Abhängig von den politischen Kräfteverhältnissen und je nach Haushaltslage könnte es der Bundestag auch im Fall von Auszubildenden darauf anlegen, deren Ansprüche kleinzurechnen. Andererseits haben die Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerks der letzten Jahre wiederholt gezeigt, dass das durchschnittliche Einkommen von Studierenden sich in einem Bereich bewegt, der eindeutig prekär ist. Faktisch leben viele Auszubildende an der Armutsgrenze oder auch darunter.
Bisher war es die turnusmäßig alle vier Jahre durchgeführte „Sozialerhebung zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Studierenden in Deutschland“, die die Datengrundlage zur Bemessung der BAföG-Leistungen lieferte. Die Bundesverwaltungsrichter beklagen hier ein Defizit an Transparenz. Worin bestehen für Sie die Hauptmängel?
Im Rahmen der Sozialerhebung wurden verschiedene regelbedarfsrelevante Bedarfspositionen nicht erfragt. Das betrifft mindestens vier Abteilungen, nämlich Wohnungsinstandhaltung, Einrichtungsgegenstände für den Haushalt, andere Waren und Dienstleistungen sowie Bildungswesen, was zum Beispiel Ausgaben für Volkshochschul- und Sprachkurse betrifft. Würden diese Punkte analog dem SGB II berücksichtigt, ergäben sich für das Jahr 2015 schon über 63 Euro mehr. Unklarheit besteht auch beim Thema Strom, wofür nach dem SGB II 2015 knapp über 31 Euro veranschlagt waren. Strom gehört, soweit nicht elektrisch geheizt wird, nicht zu den Unterkunfts- und Heizungskosten. Ich gehe deshalb davon aus, dass er auch nicht in der BAföG-Wohnpauschale enthalten ist, die 2015 bei 224 Euro lag, inzwischen bei 325 Euro.
Und diese blinden Flecken in der Erhebung bestehen bis heute fort?
Seit Mai gibt es ja diese umfassendere Erhebung, die vier bislang getrennt erfolgte Studierendenbefragungen bündelt. In ihrem Rahmen taucht ein Sammelposten „weitere Ausgaben“ auf, bei dem ich allerdings die Gefahr einer systematischen Untererfassung sehe. Die zufällig ausgewählten Studierenden werden beim Ausfüllen des Online-Fragebogens kaum die Zeit und Muße haben, ihre Ausgaben bis ins kleinste Detail aufzuschlüsseln. Zum Vergleich: Bei der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, auf deren Basis das menschenwürdige Existenzminimum ermittelt wird, zeichnen Menschen in einem Zeitraum von drei Monaten anhand eines Haushaltsbuches ihre Einnahmen und Ausgaben auf.
Wird sich das Bundesverfassungsgericht womöglich auch das Bemessungsverfahren für über den Grundbedarf hinausgehende Bedarfe vorknöpfen, etwa die Wohnpauschale? Die aktuell bewilligten 325 Euro decken ja vielerorts bei weitem nicht die tatsächlichen Kosten.
Davon gehe ich nicht aus, weil die Unterkunftskosten weder Gegenstand einer Vorlage noch einer Verfassungsbeschwerde sind. Für die Zukunft halte ich dies aber nicht für ausgeschlossen. Bis sich Karlsruhe damit befasst, müssten ohne einen Vorlagebeschluss allerdings alle drei Instanzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit durchlaufen werden. Das kann lange dauern. Im aktuellen Fall gingen bis zum Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts sechs Jahre ins Land.
Apropos Hängepartie. Was erwarten Sie sich vom Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Problematik, dass zwischen der Festlegung der Leistungen und der Bedarfsermittlung im Regelfall etliche Jahre liegen. Im Fall Ihrer Mandantin „lag der Festsetzung aus dem Jahre 2010, die bis 2016 galt, eine Erhebung aus dem Jahr 2006 zugrunde“, heißt es im Beschluss. Wird Karlsruhe an der Stelle eingreifen?
Das halte ich für sehr wahrscheinlich. Nach meiner Übersicht ist das BAföG die letzte bedürftigkeitsabhängige Sozialleistung, bei der keine automatische Dynamisierung erfolgt. Beim SGB II, beim SGB XII, beim Asylbewerberleistungsgesetz sowie inzwischen auch beim Wohngeld findet alle Jahre eine Anpassung der Leistungen entsprechend der Einkommens- und Preisentwicklung statt. Es gibt für mich kein schlüssiges Argument, warum dies nicht auch fürs BAföG gelten sollte.
In den 2000er-Jahren gab es allein zwei Phasen, in denen die BAföG-Sätze sechs Jahre am Stück eingefroren waren. Diesem Treiben wird Karlsruhe ein Ende setzen?
Davon gehe ich aus. Begründet wurden diese Durststrecken ja immer damit, dass man ja gerne mehr Geld in die Ausbildungsförderung stecken wolle, aber der Haushalt dies nicht hergebe. Das wird hoffentlich in Zukunft nicht mehr möglich sein.
Wann rechnen Sie mit einer Entscheidung aus Karlsruhe?
Zwischen den Vorlagebeschlüssen zum SGB II und Asylbewerberleistungsgesetz und dem abschließenden Urteil vergingen eineinhalb bis zwei Jahre. Dass es beim Thema BAföG schneller geht, halte ich zwar für wünschenswert, aber eher unrealistisch.
Zumal im Falle eines positiven Urteils noch einmal viel Zeit vergehen könnte, bis ein entsprechend nachgebessertes Gesetz in Kraft tritt. Werden demnach Studierende, die heute BAföG-Leistungen beziehen, gar nichts von einer künftigen Neuregelung haben?
Nicht unbedingt. Das Bundesverfassungsgericht könnte auch eine rückwirkende Regelung anordnen, womit es sich meist zurückhält. Ebenso steht es im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, rückwirkende Anpassungen vorzunehmen. Ob das geschieht, ist natürlich eine politische Frage und abhängig von den politischen Mehrheitsverhältnissen. Die bisherigen Erfahrungen geben nicht gerade Anlass zu hochfliegenden Hoffnungen, dass das passieren wird.
Wollte man – vielleicht – profitieren, sollte man mit der Aufnahme seines Studiums also besser noch zwei, drei Jahre warten ...
Nun ja, die Mühlen der Justiz mahlen bekanntlich langsam. Aber natürlich ist der Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts auch schon für sich viel wert. Er liefert gute und wichtige Argumente, um deutlich zu machen, dass das BAföG absolut auf Kante genäht ist. Das stärkt noch einmal denjenigen den Rücken, die auf eine rasche BAföG-Reform zumindest nach der Bundestagswahl dringen.
Das BAföG feiert gerade 50jähriges Jubiläum. Hätte es einen besseren Zeitpunkt für die richterliche Abfuhr geben können?
Auf jeden Fall ist der Vorlagebeschluss ein starker Impulsgeber in der Diskussion darüber, wo es hingehen soll mit dem BAföG und wie eine nachhaltige strukturelle Reform aussehen müsste. Ich habe mir die Wahlprogramme der für den Bundestag kandidierenden Parteien angesehen: Die Linkspartei vertritt hier mit 1.200 Euro, Abschaffung der Altersgrenzen und Anpassung der Bezugsdauer an die reale durchschnittliche Studiendauer eine progressive Position. Die Grünen wollen neben einem das Kindergeld ersetzenden Garantiebetrag einen Bedarfszuschuss, der maximal den Regelsätzen für Erwachsene entspricht, die angehoben werden sollen. Wie davon auch die Miete und Ausbildungskosten bezahlt werden sollen, bleibt unklar.
Auch die SPD strebt mit einer schrittweisen Rückkehr zum Vollzuschuss und Aufhebung der Altersgrenzen gewisse Fortschritte an, die FDP hat mit ihrem elternunabhängigen Baukasten-BAföG, das ganz überwiegend aus Darlehen bestehen soll, eher neoliberale Vorstellungen, will aber auch die Altersgrenzen aufheben und als Förderungshöchstdauer die Regelstudienzeit plus zwei Semester. Die AfD will BAföG-Empfängern bei einer Geburt während der Ausbildung die Rückzahlung bei erfolgreichem Abschluss erlassen. Von der Union fehlt bisher jede Positionierung. Das letzte, was ich von der CDU gefunden habe, war die Ansage vom August 2020, dass derzeit keine Notwendigkeit für Änderungen am BAföG bestehe. Es ist zu hoffen, dass sich auch diese Partei jetzt eines Besseren besinnt.
Was müsste für Sie eine echte Strukturreform leisten?
Zunächst einmal: Das BAföG ist ein restriktives Sozialleistungsgesetz mit vielen Klippen, Hürden und Fallstricken, die es Betroffenen erheblich erschweren, die nötige Ausbildungsförderung zu erhalten. Das geht zum Beispiel los mit der Altersgrenze und geht weiter mit dem Leistungsnachweis, der nötig ist, um ab dem fünften Semester eine Förderung zu erhalten. Nach einem Fachrichtungswechsel oder Ausbildungsabbruch wird BAföG nur gewährt, wenn ein unabweisbarer Grund oder ein wichtiger Grund anerkannt wird. Wobei der wichtige Grund nur reicht, wenn der Wechsel oder Abbruch spätestens bis zum Beginn des vierten Fachsemesters erfolgt. Wer trotzdem im neuen Studiengang ohne BAföG den Bachelor schafft, für den ist ein Master-Studium nicht mehr förderfähig.
Weiter ist die Förderungshöchstdauer im Umfang der Regelstudienzeit zu knapp bemessen, sie enthält seit 1996 nicht einmal mehr das Semester zur freieren Studiengestaltung, das es bis dahin gab. Der Deutsche Gewerkschaftsbund und selbst die Hochschulrektorenkonferenz fordern hier eine Aufstockung um zwei Semester. Diese und andere Restriktionen sollten dringend abgeschafft und die Bedarfssätze deutlich angehoben werden, um Studierenden das Leben so zu erleichtern, dass sie sich wirklich aufs Studium konzentrieren können und nicht genötigt sind, oft am oder unter dem Existenzminimum herumzukrepeln. (rw)