Erst Hui, dann reichlich Pfui50 Jahre BAföG
Kaum zu glauben: Das BAföG wird 50! Und muss dringend wieder ausgebaut werden.
Das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) wird 50 Jahre alt. Das ist schön. Noch schöner, wäre es, gäbe es auch etwas zu feiern. Wenn die Sozialleistung am 1. September 2021, fünf Jahrzehnte nach Inkrafttreten, ihren runden Ehrentag begeht, wird der Champagner wohl im Keller bleiben müssen – und die Stimmung gleich mit. Eher ist der Termin etwas für Wehmütige oder Nostalgiker. Denn wozu im Hier und Jetzt für etwas eine Party schmeißen, das nur noch ein billiger Abklatsch seiner besten Zeiten ist.
Wer fragt, was das BAföG gegenwärtig ist und was aus ihm werden könnte, kommt nicht ohne den Rückblick darauf aus, was das BAföG einmal war. 1971 unter Willy Brandt (SPD) in sozial-liberaler Regentschaft eingeführt, stand es – zumindest ein Jahrzehnt lang – für drei Selbstverständlichkeiten: Erstens kam es rechtsverbindlich einer großen Breite der Studierendenschaft zugute. 1972 erhielten 44,6 Prozent aller Hochschüler in Deutschland Fördergelder, ein danach nie wieder dagewesenes Level. Zweitens stellte die Hilfe sicher, dass diejenigen, die die Maximalförderung erhielten, davon auch tatsächlich leben konnten. Und drittens wurden die Zuwendungen als Vollzuschuss gewährt, kein Pfennig musste später zurückerstattet werden. Wobei sich das schon nach drei Jahren änderte, 1974 wurde ein Darlehensanteil von 50 DM pro Monat eingeführt.
Abwärts ohne Ende
Und heute? Die Förderquote bewegt sich irgendwo zwischen elf und zwölf Prozent. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes profitierten 2019 im Monatsmittel 317.000 von knapp 2,9 Millionen Studierenden von dem Instrument. Die neuesten im August erwarteten Zahlen dürften noch darunter liegen. Sogar das elitäre, vom BAföG abgelöste Honnefer Modell hatte mit bis zu 19 Prozent im Verhältnis mehr Profiteure zu bieten. Mit BAföG allein kommt dieser Tage kaum mehr einer über die Runden. Über zwei Drittel gehen einem Nebenjob nach. Der Student als Erwerbsarbeiter ist längst der Normalfall, selbst der mit staatlichem Beistand.
Vor allem weisen die Kennziffern seit vielen Jahren nur in eine Richtung: nach unten. Zum Beispiel erhielten 2016 gemäß der vom Deutschen Studentenwerk (DSW) vorgelegten „21. Sozialerhebung zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Studierenden in Deutschland“ Angehörige der Herkunftsgruppe „niedrig“ nur zu 27 Prozent Unterstützung. Im Jahr 2012 waren es noch 40 Prozent.
Dabei stellten laut der Studie 37 Prozent der jungen Menschen mit einkommensschwachen Eltern deshalb keinen Antrag, weil sie nicht auf einem Schuldenberg ins Berufsleben starten wollen. Seit 1990 werden die Leistungen hälftig als Zuschuss gewährt, während die andere Hälfte als zinsloses Darlehen bei einer Höchstverschuldung von 10.000 Euro bewilligt wird. Erwiesenermaßen schreckt dies gerade Menschen aus ärmeren Schichten davon ab, die Hilfe zu beanspruchen. Dies und viele weitere Restriktionen haben dazu geführt, dass diejenigen, auf die die Maßnahme eigentlich primär gemünzt ist, immer weniger erreicht werden.
Kahlschlag mit Kohl
Die Jugendorganisation des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) hat dem Niedergang eigens ein kleines zur „Kürzungsgeschichte des BAföG seit 1971“ in ihrem zu Wochenanfang vorgelegten „Alternativen BAföG-Bericht“ gewidmet. Demnach seien die meisten Änderungsgesetze mit einer Einschränkung des als förderungsfähig geltenden Personenkreises einhergegangen. So wäre als Folge eines Haushaltsbegleitgesetzes von 1983 die Zahl der begünstigten Schülerinnen und Schüler um satte 85 eingebrochen.
„Der Sparwille der meisten Bundesregierungen drückte sich außerdem regelmäßig in der Umstellung immer größerer Teile der Förderung auf Darlehen und/oder in der mangelhaften oder fehlenden Erhöhung von Bedarfssätzen und Freibeträgen aus“, konstatieren die Autoren. Den dicksten Hammer leistete sich fraglos die schwarz-gelbe Regierung unter Helmut Kohl (CDU) mit ihrem Beschluss von 1982, die studentischen Hilfen nur noch als Volldarlehen einzuräumen und das Schüler-BAföG de facto abzuschaffen. Von dem Kahlschlag, der die Förderquoten massiv drückte, sollte sich das BAföG auch nach der Korrektur acht Jahre später bis heute nie wieder erholen.
Abbau nach Plan
Das alles mit „haushälterischen Notständen“ oder „Versäumnissen“ zu erklären, führt in die Irre. Der Raubbau am BAföG hat System und Angela Merkel (CDU) steht dafür mit ihrer inzwischen 16jährigen Kanzlerinnenschaft Patin. Die unter ihr wirkenden Bundesbildungsministerinnen Annette Schavan, Johanna Wanka und Anja Karliczek (alle CDU) haben sich dafür aufgerieben, die Sozialleistung sukzessive zu entwerten und zu diskreditieren, um so ihr Drei-Säulen-Modell der Studienfinanzierung nach vorne zu bringen. Darin bleibt für die staatliche Komponente immer weniger Platz, während Studienkredite und „Stipendienkultur“ kräftig ausgebaut wurden.
Durch immer wieder neue Manöver haben sie das BAföG in einen zunehmend fragilen Zustand versetzt und damit Angriffsflächen für interessierte Kreise in Politik, Industrie und Bankenwelt geschaffen („Deutschlandstipendium“, Studiendarlehen), die auf seine Abwicklung hinarbeiten. Ihr Hauptbetätigungsfeld war dabei die Untätigkeit. Zwischen 2010 und 2016 gingen sechs Jahre ohne Anpassung der Bedarfssätze und Elternfreibeträge ins Land. Davor war dies schon einmal von 2002 bis 2008 der Fall, was die Mitschuld an der Misere durch die selbsternannte „BAföG-Partei“ SPD unterstreicht. Auch im Rahmen von danach drei weiteren Regierungsbeteiligungen haben die Sozialdemokraten nichts unternommen, ihren Groko-Partner von der CDU/CSU zu einem BAföG-Erholungskurs zu nötigen.
Stramm auf Crashkurs
Vor der letzten BAföG-Novelle von 2019, die laut Karliczek die große „Trendumkehr“ bei den Gefördertenzahlen einleiten sollte, gab es drei lange Jahre keine BAföG-Erhöhung. Und die drei sogenannten Reformen davor (2008, 2010, 2016) verfehlten die in Sonntagreden gemachten Versprechen genauso konsequent wie die jüngste, die den abgehalfterten Kahn weiter stramm auf Crashkurs hält. Und Rettung ist nicht in Sicht. Bis die nächste Bundesregierung (vielleicht ja wieder dieselbe) die nächste Reform angeht, dürften mindestens noch ein, wenn nicht zwei Jahre verstreichen, in denen noch mehr Förderfähige über Bord gehen.
Denn mit jedem Jahr, in dem die Regelsätze und Freibeträge nicht an die allgemeine Preis- und Einkommensentwicklung angepasst werden, purzeln eigentlich Bedürftige aus der Förderung. So gründete etwa die 2019-Reform auf der empirischen Datenlage der Sozialerhebung aus dem Jahr 2016. Die „Anpassungen“ waren damit schon drei Jahre im Verzug. Das DSW hatte im Januar 2019 durch das Berliner Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) errechnen lassen, dass der Regelsatz sofort auf 500 bis 550 Euro hätte angehoben werden müssen. Staat dessen wurde der Betrag in zwei Stufen auf kümmerliche 427 Euro aufgestockt.
Vielleicht noch stärker als die wiederholten Hängepartien schlägt allerdings ins Kontor, dass immer mehr junge Menschen von sich auf die staatliche Hilfe verzichten, die ihnen per Gesetz zusteht. Wenn heute weniger als jeder fünfte Anspruchsberechtigte BAföG beantragt, erklärt sich das gewiss auch mit Verschuldungsängsten. Viele und immer mehr stellen aber einfach für sich fest: „Das Geld, das ich bekomme, reicht sowieso nicht zum Leben. Dann jobbe ich lieber 15 Stunden mehr im Monat, spare mir den Antragsstress und abstottern muss ich später auch nichts.“ Dieser Haltung ließe sich nur beikommen mit einer wirklich großangelegten Strukturreform mit Fördersummen, die mit der Realität Schritt halten und nicht um Jahre hinterherhecheln.
Zeitspielerei
Aber genau das ist politisch nicht gewollt und der besagte Report der DGB-Jugend legt hier den Finger in die Wunde. Turnusmäßig hätte Karliczek vor zwei Jahren den 22. BAföG-Bericht der Bundesregierung vorlegen müssen. Gesetzlich ist die Bundesregierung dazu verpflichtet, „Bedarfssätze, Freibeträge sowie die Vomhundertsätze und Höchstbeträge (…) alle zwei Jahre zu überprüfen und durch Gesetz gegebenenfalls neu festzusetzen“. Dabei sei der „Entwicklung der Einkommensverhältnisse und der Vermögensbildung, den Veränderungen der Lebenshaltungskosten sowie der finanzwirtschaftlichen Entwicklung Rechnung zu tragen“.
Weil die letzte Berichterstattung 2017 erfolgte, hätte die Regierung streng genommen noch im Vorfeld der 26. BAföG-Novelle Zeugnis ablegen müssen. Das tat sie aus durchsichtigen Gründen nicht, da sonst ihr ganzes Reformwerk schon am Tag des Inkrafttretens hoffnungslos überholt angemutet hätte. Dass die Veröffentlichung – angeblich wegen der Corona-Krise – nun sogar auf 2022 verschoben wurde und damit mit dreijähriger Verspätung kommt, verschafft Karliczek nicht nur Luft, damit ihre in drei Schritten angelegte Reform erst so richtig (nicht) wirken kann.
Vor allem lassen sich so auch Begehrlichkeiten der Opposition zügeln, möglichst bald mit einer Novelle nachzulegen. Das Argument: Solange kein BAföG-Bericht da ist, bewegt man sich in Sachen Leistungsfestlegung im luftleeren Raum. Und wenn er dann doch eines Tages mal da ist, muss das längst nicht bedeuten, dass dann die 27. Novelle auf den Fuß folgt. Schließlich dauerte es nach dem 2017er-Bericht immerhin noch 18 Monate bis zum Vollzug der Reform.
„Depriorisierung der Bildungsförderung“
Mit ihrer Alternativauswertung will die DGB-Jugend diese selbstgebackene Lücke schließen und den Druck für ein rasches Handeln nach der im Herbst anstehenden Bundestagswahl erhöhen. Die Analyse widerlegt dabei auch die Mär vom fehlenden Geld. Wie Bundesjugendsekretärin Manuela Conte in einer Medienmitteilung vorrechnete, sind die Ausgaben fürs BAföG zwischen 2015 und 2019 um 350 Millionen Euro gesunken, während der Bundeshaushalt um 45 Milliarden Euro zulegte. Bezogen auf die Gesamtausgaben des Bundes sank der Anteil der BAföG-Aufwendungen laut Studie von 1,07 Prozent im Jahr 2012 auf 0,76 Prozent 2019. Die Verfasser sehen darin eine „Depriorisierung der Aufgabe Bildungsförderung“.
Vor allem für Studierende in Großstädten und Ballungsräumen seien die Fördersätze „deutlich zu niedrig“. Die bewilligte Wohnpauschale beträgt 325 Euro, was zuletzt 2016 gereicht hätte, um eine Bleibe zu bezahlen. Anhand einer marktbasierten Schätzung sei anzunehmen, „dass schon am ersten Tag der Gültigkeit der Gesetzesänderung durchschnittlich nur 82 Prozent der Mieten mit der BAföG-Wohnpauschale zu decken waren“, heißt es in der Untersuchung. Demnach kostet ein WG-Zimmer im Mittel 403 Euro, in München werden im Schnitt sogar deutlich mehr als 600 Euro verlangt. „Die Mieten machen bei den Lebenshaltungskosten der jungen Menschen inzwischen den Löwenanteil aus“, befand Conte.
Mittelschicht außen vor
Im Vergleich zur Vorgängerstudie von vor vier Jahren beziehen heute 27 Prozent weniger Schülerinnen und Schüler sowie 21 Prozent weniger Studierende staatliche Ausbildungshilfen. Der Befund: „Das BAföG erreicht längst nicht mehr – wie von allen demokratischen Parteien gefordert – die untere Mittelschicht“. Für eine Trendwende müssten Bedarfssätze, Freibeträge und Sozialpauschalen „regelmäßig mit jedem fälligen BAföG-Bericht an Inflation und Einkommensentwicklung angepasst werden“. Dies müsse „auch fest im Gesetz verankert werden“. Der Ausgangspunkt müsse „eine einmalige Erhöhung um mindestens 150 Euro sein.“
Ein weiteres Ergebnis: Die Zuwendungen für Schülerinnen und Schüler liegen bis zu 22 Prozent unter denen für Studierende. In der Sekundarstufe II an allgemeinbildenden Schulen würde nur noch ein Prozent der Jugendlichen gefördert. Derzeit haben Schulbankdrücker nur Anspruch auf BAföG, wenn sie einen eigenen Haushalt führen müssen. Diese Praxis trage zur sozialen Schieflage beim Hochschulzugang bei, da schon die Entscheidung, ob Abitur gemacht wird, häufig an finanzielle Möglichkeiten geknüpft wird, monieren die Autoren.
„Wir brauchen schnellstens ein besseres BAföG. Die soziale Herkunft darf nicht über Bildungschancen entscheiden, kommentierte Conte. Die Vizevorsitzende des DGB, Elke Hannack, ergänzte: „Deutschland kann und darf es sich nicht leisten, Arbeiterkinder von ihren Bildungschancen abzuschneiden.“ Zu den Forderungen des Gewerkschaftsdachverbands gehören die Abschaffung der Altersgrenzen, die Erhöhung der Förderhöchstdauer „pauschal um zwei Semester“, die Möglichkeit einer rückwirkenden Antragsstellung und „dass Angebote zur Orientierung, die dem Studium verbindlich vorgeschaltet sind, förderfähig werden“. Außerdem wären die Leistungen „zeitnah in eine Vollförderung zu überführen“.
Hoffen auf Karlsruhe
Hoffnung macht der DGB-Jugend der jüngste Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts, das Verfahren zur Bemessung der BAföG-Leistungen vom Bundesverfassungsgericht prüfen zu lassen. Das ist laut Conte ein „deutliches Signal“ an die Politik, endlich die Bedarfssätze angemessen zu gestalten. Dass es überhaupt zu einem solchen Verfahren gekommen sei, nannte sie ein „Armutszeugnis für die Bundesregierung“.
Die könnte das in ihrem Kürzungseifer glatt als Kompliment auffassen. Vom scheinheiligen Abfeiern des trostlosen Jubiläums hält sie das freilich nicht ab. Wortlaut Karliczek: „50 Jahre BAföG ist in unserem Land die große soziale Errungenschaft für den Aufstieg durch Bildung.“ Hört, hört. Kommende Abrissarbeiten muss sie aber wohl ihrem/r Nachfolger/in überlassen.
Damit es anders kommt, tut Widerstand not. Die nächste Gelegenheit bietet sich am 26. Juni beim dezentralen Aktionstag des „#BAföG50“-Bündnisses aus dutzenden Initiativen, Studierenden- und Jugendverbänden. Ihre Devise: „(K)ein Grund zu feiern.“
(rw)