Sozialverband mit alarmierender StudieEin Drittel aller Studierenden ist arm
Viele Studierende haben zum Ende des Monats kein Geld mehr.
Dieser Tage schickt sich die Bundesregierung an, eine Reform des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) ins Werk zu setzen. Nimmt man die Ergebnisse einer aktuellen Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, dann tut das buchstäblich bitter not. Nach der am Dienstag veröffentlichen Untersuchung lebt gegenwärtig rund ein Drittel aller Studierenden in Deutschland in Armut.
Es könnten aber auch mehr sein, denn die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2020 und errechnen sich auf Basis des Einkommensjahrs 2019. Deshalb bestehe „sogar noch das Risiko einer Untererfassung“ des tatsächlichen Ausmaßes der Misere, heißt es in der Analyse. Die ohnehin schon „dramatischen Befunde“ spiegelten nicht die „drastischen Einschnitte“ wider, die mit Beginn und während der Corona-Krise eingetreten seien.
Gefahr der Untererfassung
Im Gefolge zweier mehrmonatiger Lockdowns waren zahllose Studentenjobs weggebrochen, wodurch „die finanzielle Situation von Studierenden stark beeinträchtigt“ worden sei. Weil laut Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW), Stand 2016, alleinwirtschaftende Hochschüler ihren Lebensunterhalt im Schnitt zu 26 Prozent durch Erwerbsarbeit bestreiten, sei eine „noch höhere Armutsbetroffenheit sowie ein größerer Abstand zu einem armutsfesten Gesamteinkommen zu erwarten“, führen die Autoren aus.
Aber auch ohne Berücksichtigung des Pandemie-Effekts sind die Resultate der durch die Paritätische Forschungsstelle erarbeiteten Kurzexpertise alarmierend. Diese basiert auf der Auswertung von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), einer repräsentativen Wiederholungsbefragung von Privathaushalten in Deutschland, an der rund 14.000 Haushalte und 30.000 Personen teilnehmen. Während die so ermittelte Armutsquote in der Gesamtbevölkerung für das Jahr 2020 mit 16,8 Prozent beziffert ist, lag der Wert unter Studierenden mit 30,3 Prozent fast doppelt so hoch.
„Das Versprechen von Fortschritt, Chancengleichheit und gleichen Möglichkeiten für alle junge Menschen ist nicht viel wert, wenn es nicht gelingt, Studierende wirksam vor Armut zu schützen und ihnen den Rücken für eine Ausbildung, frei von existenzieller Not, zu stärken“, äußerte sich Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, am Dienstag in einer Medienmitteilung. Und weiter: „Die altbackenen Klischees des fröhlichen Studentenlebens bei wenig Geld, aber viel Freizeit, sind absolut überholt und haben mit der Lebenswirklichkeit und dem Studiendruck heutzutage nichts mehr zu tun.“
Täglicher „Überlebenskampf“
Das Dasein einer beträchtlichen Zahl der derzeit knapp 2,9 Millionen Studierenden in Deutschland hat viel eher etwas von „Überlebenskampf“. Das sogenannte Median-Einkommen von Studierenden belief sich vor zwei Jahren auf kümmerliche 802 Euro monatlich. Die Lücke zur amtlichen Armutsgrenze von 1.266 Euro (beide Werte jeweils gerundet) betrug damit 463 Euro. Und dies ist nur ein Mittelwert.
Besonders gravierend stellt sich die Situation von Studierenden dar, die alleine wohnen. Von ihnen waren 2020 fast 79,2 Prozent von Armut betroffen, also praktisch vier von fünf. Die Hälfte der Studierenden in Ein-Personen-Haushalten hatte weniger als 825 Euro im Monat zur Verfügung, 25 Prozent sogar weniger als 600 Euro. Damit hätten 40 Prozent der alleinstehenden Studierenden ein Leben „mithin unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums“ geführt, befinden die Forscher.
Demgegenüber lag die Armutsquote bei denen, die weiterhin im Elternhaus wohnhaft sind, bei nur 7,1 Prozent. Nicht nur müssen diese in der Regel ihr Essen nicht selbst bezahlen. Vor allem sparen sie sich die horrenden Mietkosten, die heutzutage in der Mehrzahl aller Hochschulstädte fällig werden. Bekanntlich kennen die Preise seit Jahren nur eine Richtung: steil nach oben. In München etwa werden inzwischen 600 Euro und mehr für ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft aufgerufen. Zwar will die Bundesregierung die BAföG-Wohnpauschale von 325 auf 360 heraufsetzen. Allerdings erscheint dieser Zuschlag bei den überhitzten Wohnungsmärkten für viele wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Zumal ohnehin nur noch rund elf Prozent aller Studierenden staatliche Ausbildungshilfen beziehen.
„Halbherzige“ BAföG-Novelle
Dabei sind nicht einmal die Begünstigten vor Armut sicher. Knapp 45 Prozent „der Studierenden mit BAföG sind arm“, konstatieren die Verfasser der Studie. Auf Hochschüler ohne öffentliche Zuwendungen trifft dies „nur“ zu 28,9 Prozent zu. 2019 lag der BAföG-Höchstsatz bei 853 Euro. Zu einem armutssicheren Auskommen fehlten damit mal eben 413 Euro. Gemäß Erhebung gaben Befragte, die noch nie BAföG beantragt haben, zu 83 Prozent an, ihre Studienfinanzierung sei sichergestellt. Studierende mit elternabhängigem BAföG stimmten dieser Aussage mit 56 Prozent zu und jene mit elternunabhängigem BAföG bloß zu 46 Prozent.
Für Nicole Gohlke, bildungspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke, sind die Befunde „ein Armutszeugnis für die deutsche Politik“, welches das „Versagen der letzten Bundesregierungen bei den notwendigen Anpassungen beim BAföG“ verdeutliche. „Umso unerklärlicher“ sei es, dass die Ampel-Koalition mit ihrem „halbherzigen Entwurf“ einer BAföG-Novelle „diese Schieflage nicht ausreichend angeht“. Wer die Studierenden und Auszubildenden so stiefmütterlich behandele, „braucht sich über Fachkräftemangel nicht zu wundern“.
Am Mittwoch berät der Bundestagsausschuss für Bildung die von Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) eingebrachte Gesetzesvorlage für eine 27. BAföG-Novelle. Diese sieht zwar eine kräftige Erhöhung der Elternfreibeträge um 20 Prozent zum kommenden Wintersemester 2022/23 vor. Allerdings sollen die Regelsätze lediglich um fünf Prozent steigen, wofür Rot-Grün-Gelb bereits heftige Kritik durch Studierendenverbände und Gewerkschaften hat einstecken müssen. Ihr Vorwurf: Wieder nur ein Reförmchen.
Nachbesserungen gefordert
Angesichts der schlechten Neuigkeiten des Paritätischen könnte der Druck auf die Ministerin noch einmal zunehmen. Nötig seien „deutliche Nachbesserungen“, bekräftigte Verbandschef Schneider. Demnach brauche es „eine bedarfsgerechte Anhebung der Leistungshöhe sowie eine automatische und regelmäßige Fortschreibung der Bedarfssätze“. Die bisher geplante Aufstockung auf künftig 449 Euro gleiche nicht einmal die realen Kaufkraftverluste durch die aktuelle Inflation aus. Wegen der Preisrally an den Energie- und Lebensmittelmärkten aufgrund des Ukraine-Kriegs drohen laut Schneider „weitere harte Belastungen, Verschuldung und Studienabbrüche für viele arme Studierende“.
Laut Gohlke wird der avisierte Fünf-Prozent-Nachschlag „durch die Inflationsrate von derzeit mehr als sieben Prozent komplett aufgefressen“. Das heiße im Klartext: „Auch das ,neue' BAföG wird unterhalb der Armutsgrenze und unter Hartz-IV-Niveau liegen“, beklagte die Linke-Politikerin. Ihr Fazit: „Die Maßnahmen der Bundesregierung werden an der derzeitigen prekären Situation der Studierenden leider nicht viel ändern.“
Auch den Studienautoren gehen die geplanten Vorhaben nicht weit genug: Zwar erscheine die schnelle Vorlage der ersten Initiativen „begrüßenswert, aber insbesondere im Hinblick auf die Reichweite und die Bedarfssätze als nicht ausreichend“. Ein reformiertes System müsse den Berechtigtenkreis erweitern und „Studierende wirksam vor Armut schützen“.
Am 12. Mai sprach die adressierte Stark-Watzinger anlässlich der ersten Lesung zur 27. BAföG-Novelle von einem „Riesenschritt nach vorne“. Klar sei: „Das BAföG muss sich dem Leben anpassen, nicht umgekehrt.“ Spätestens seit heute weiß man: mehr Augenwischerei geht kaum. (rw)