Noch viel Luft nach obenSachverständige bewerten BAföG-Reform
BAföG ist Geld vom Staat – doch wie viel ist genug?
Der folgende Satz könnte von der Linkspartei stammen: „Das BAföG hat seine Funktion, einen chancengerechten Zugang zu hochschulischen Bildungsangeboten zu ermöglichen, weitgehend verloren.“ Tatsächlich ist der Urheber das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), eine im Wesentlichen durch die arbeitgebernahe Bertelsmann Stiftung finanzierte Denkfabrik, die sich der neoliberalen Umgestaltung des deutschen Hochschulsystem verschrieben hat. Eigentlich sind Eliteuniversitäten und Studiengebühren ihr Steckenpferd und nicht so sehr die Sorge darüber, dass mit der Bundesausbildungsförderung das „Herz der Studienfinanzierung“ nicht mehr stabil schlage.
In einer schriftlichen Stellungnahme des CHE zur am gestrigen Mittwoch im Bildungsausschuss des Bundestags behandelten 27. BAföG-Novelle der Bundesregierung ist aber genau das zu lesen und noch mehr: Das Herz habe „Aussetzer. Es wird schwächer und schwächer“, heißt es da, „mittlerweile erreicht das BAföG über 89 Prozent der Studierenden nicht mehr“, gefolgt von der Feststellung, „studentische Jobs und familiäre Unterstützung“ wären inzwischen die „Eckpfeiler der Studienfinanzierung in Deutschland“.
Arbeitgeber finden: Weniger ist mehr
Die Befunde sind absolut zutreffend und liefern einen Eindruck davon, wie schlecht es um das BAföG bestellt ist. Drastisch ausgedrückt: Wenn selbst Wirtschaftsliberale dessen Niedergang beklagen, muss die Kacke am Dampfen sein. Dafür hat offensichtlich auch die neue Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watziger ein Näschen. Als FDP-Politikerin quasi von Hause aus der Industrie zugeneigt, hat sie Reformschritte auf den Weg gebracht, mit denen sie sich im Unternehmerlager nicht nur Freunde macht.
Stellvertretend hat dies bei der Expertenanhörung Isabel Rohner von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) zu Protokoll gegeben. Ihr Verband stößt sich insbesondere an der geplanten Erhöhung des Vermögensfreibetrags auf 45.000 Euro. Das setze „falsche Anreize“ und konterkariere die Zielsetzung der Sozialleistung, jene zu erreichen, die staatliche Unterstützung aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen benötigten.
Den Kurs der Regierung, den Zugang zu Ausbildungsförderung „wieder für deutlich breitere Schichten der Bevölkerung“ zu erweitern, lehnt die BDA ab. Deshalb missfallen ihr auch auch die angekündigte Anhebung der Altersgrenzen von 30 auf 45 Jahre sowie Bestrebungen, das BAföG für die berufliche Weiterbildung zu öffnen. Die ziemlich schräge Begründung dafür lässt sich in einem Positionspapier nachlesen: „Sich bei einer Sozialleistung auf eine sinkende Förderquote zu berufen, ist unpassend. Niemand würde beispielsweise beim Arbeitslosengeld I mit einer anzustrebenden Förderquote argumentieren.“
Großes Thema Verschuldungsangst
Nach dieser Logik wäre es geradezu eine Errungenschaft, wenn die Zahl der BAföG-Empfänger immer weiter sinkt. Aktuell beziehen gerade einmal noch elf Prozent aller Studierenden staatliche Ausbildungshilfen. Aber immerhin begrüßt der Unternehmerverband die Regierungspläne, die Elternfreibeträge um 20 Prozent auf 2.400 Euro anzuheben. Warum, behielt Rohner für sich. Schließlich will Stark-Watzinger damit doch den Kreis der Anspruchsberechtigten deutlich vergrößern – was die BDA ja gerade nicht will. Irgendwie verwirrend ...
Die Hintergründe dafür, dass sich seit Jahren eine regelrechte Flucht aus dem BAföG vollzieht, beleuchtete Katja Urbatsch, Gründerin und Geschäftsführerin der Initiative Arbeiterkind.de. Nach ihren Erfahrungen halten die mangelnde Planbarkeit der Studienfinanzierung sowie Unklarheiten über die Höhe des BAföG-Anspruchs viele davon ab, staatliche Hilfen nachzufragen. So werde die bürokratische Hürde der Antragstellung „vielfach in der falschen Erwartung einer vernachlässigbar niedrigen Förderhöhe oder der Ablehnung des Antrags nicht auf sich genommen“, heißt es dazu in einer schriftlichen Stellungnahme.
Arbeiterkind.de ermutigt und unterstützt Kinder mit sogenannter nichtakademischer Herkunft zur Aufnahme und beim Absolvieren eines Studium. Positiv bewertete Urbatsch bei ihrer Wortmeldung im Bildungsausschuss die kräftige Aufstockung der Freibeträge, mahnte aber mehr Transparenz bei der Festsetzung der Berechnungen der Leistungen an. So müsse sich der Bedarf am studentischen Warenkorb bemessen. Kritik übte sie ferner daran, dass Bezugsberechtigte nach ihrem Erstantrag zu lange auf ihr Geld warten müssten. Ein großes Thema sei auch die Verschuldungsangst vieler junger Menschen, die sie vom Studium abhalte.
Linkspartei für Vollzuschuss
Die Bundestagsfraktion Die Linke schlägt deshalb in einem eigenen Antrag vor, die Förderung auf einen rückzahlungsfreien Vollzuschuss umzustellen. Außerdem sollten die Fördersätze unter Berücksichtigung der Lebensunterhaltskosten gestaltet und die Zuschläge für Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe der tatsächlichen Beiträge einschließlich der Zusatzbeiträge der jeweiligen Krankenkasse gewährt werden. Ferner müssten Zuschläge zur Kinderbetreuung auf ein existenzsicherndes Niveau angehoben und ebenso regelmäßig dynamisiert werden wie das BAföG als Ganzes.
Ihre bildungspolitische Sprecherin, Nicole Gohlke, nannte die geplanten Änderungen jüngst im Bundestag „überfällig“. Es sei ein „schweres Versagen der letzten Bundesregierungen“ gewesen, das BAföG nicht schon früher angepackt zu haben. Die vorgesehene Erhöhung von Bedarfssätzen, Freibeträgen und Altersgrenzen sei zwar begrüßenswert, gleichwohl laufe die Reform an vielen Stellen ins Leere. Weil die avisierte Fünf-Prozent-Erhöhung bei den Bedarfssätzen direkt von der Inflation verschlungen werde, deckten die Leistungen auch in Zukunft nicht den realen Bedarf. „Das können Sie nicht als großen Wurf und bildungspolitischen Aufbruch verkaufen“, sagte Gohlke an die Ministerin gerichtet.
„Es klingt beinahe zynisch, wenn bei diesen Gefördertenzuwachsprognosen immer wieder davon gesprochen wird, was für ein großer Schritt diese Reform ist“, bemerkte Lone Grotheer, die im Bildungsausschuss für den „freien zusammenschluss von student*innenschaften“ (fzs) das Wort ergriff. Die Erhöhung der Bedarfssätze sei zu niedrig, nicht einmal die Preissteigerungen würden ausgeglichen. „Auch die anderen Anpassungen dieser Novelle sind schlicht nicht ambitioniert genug.“
Fast jeder dritte Student ist arm
Grotheer plädierte stattdessen für eine Regelleistung von 1.500 Euro monatlich und dafür, das „Bildung generell vom Einkommen der Eltern unabhängig“ geregelt werden solle. Außerdem verwies sie auf eine am Dienstag vom Paritätischen Wohlfahrtsverband veröffentlichte Studie, nach der „fast jeder dritte Student in Armut lebt“. Deshalb könne Stark-Watzingers Gesetzesvorstoß nur „ein Anfang“ sein.
Für ein elternunabhängigeres BAföG sprach sich auch Sonia Bolenius vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) aus. Für sie geht es beim BAföG nicht nur um Chancengleichheit beim Zugang zum Studium, sondern ebenso um die Freiheit der Berufswahl. Sie forderte eine pauschale Anhebung der Regelsätze um 150 Euro und bemängelte, dass bei deren Festsetzung nicht zwischen Lebens-und Ausbildungskosten unterschieden werde. Das mache die Berechnung „realitätsfern“, weil „unscharf“.
Unzureichend sind die Regierungspläne ebenso aus Sicht der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), wie Vizepräsidentin Ulrike Tippe erklärte. Die Bedarfssätze und der Zuschlag bei der BAföG-Mietpauschale von 325 auf 360 Euro gingen an der Lebensrealität vorbei. WG-Zimmer zu diesem Preis seien „praktisch nicht zu bekommen“. Grundsätzlich bedürfe es einer „kontinuierlichen Anpassung“ der Zuwendungen an die Preis- und Einkommensentwicklung.
Strukturelle Reformen vertagt
Laut HRK muss die Reform Auftakt zu mehr sein. Es fehlten „strukturelle“ Eingriffe, etwa die Öffnung der Förderung für Teilzeitstudierende sowie eine Abkehr vom Kriterium der Regelstudienzeit. Lediglich noch rund ein Drittel der Studierenden erfülle diese Vorgabe, gab Tippe zu bedenken. Deshalb solle die Förderdauer künftig um zwei Semester ausgedehnt werden.
Stark-Watzinger hatte sich zuletzt dahingehend geäußert, weitere grundlegende Veränderungen „in einem zweiten Schritt“ noch innerhalb der laufenden Legislaturperiode anpacken zu wollen. Dazu gehöre ein regelmäßiger Anpassungsprozess „nicht nach Kassenlage“, sondern mit einem „sinnvollen Rhythmus“, sowie Maßnahmen, das BAföG elternunabhängiger zu machen. So solle künftig die von der Ampel-Koalition in Aussicht gestellte „Kindergrundsicherung direkt an die Studierenden“ ausbezahlt werden.
Den ebenfalls per Koalitionsvertrag angekündigten „Notfallmechanismus“, von dem es zunächst so aussah, als käme er nicht so bald oder gar nicht zustande, hat die Ministerin inzwischen ausarbeiten lassen. Damit könnte die Neuerung schon ab dem kommenden Wintersemester greifen. Die Idee dahinter: Studierende sollen in außergewöhnlichen gesellschaftlichen Krisensituationen – wie zuletzt die Pandemie oder neuerdings der Ukraine-Krieg – staatliche Unterstützung erhalten, um nicht wegen finanzieller Zwänge ihr Studium aufgeben zu müssen.
Im Notfall Förderung für alle?
Nach dem Wortlaut eines in der parlamentarischen Beratung befindlichen Ergänzungsgesetzes wird die Bundesregierung ermächtigt, „durch Rechtsverordnung im Falle einer bundesweiten Notlage, die den Arbeitsmarkt für ausbildungsbegleitende Nebentätigkeiten in erheblichem Ausmaß beeinträchtigt, das BAföG vorübergehend für einen Personenkreis zu öffnen, der normalerweise vom BAföG-Bezug ausgeschlossen ist“.
Damit setzt die FDP-Poltikerin die Forderung von Studierendenverbänden, Gewerkschaften und des Deutschen Studentenwerks (DSW) um, nach dem Motto „BAföG für alle“ temporär auch jenen staatlichen Beistand zu gewähren, die sonst leer ausgehen. Allerdings lässt die Vorlage noch viele Fragen unbeantwortet, etwa die, wann konkret ein Krisenfall vorliegt. Dies nämlich unterliegt der Auslegungsfreiheit des Bundestags. Zudem ist die Maßgabe „erhebliche Nachfrageeinbrüche auf dem Arbeitsmarkt für ausbildungsbegleitende Erwerbstätigkeiten“ mit keiner Größenordnung beziffert.
Offen bleibt überdies, wie viel Geld den Begünstigen zusteht, ob und wie stark die Zuschüsse von den üblichen BAföG-Sätzen abweichen und welcher Nachweise es bedarf, um überhaupt förderfähig zu sein. Bei den von Amtsvorgängerin Anja Karliczek (CDU) aufgelegten sogenannten Corona-Überbrückungshilfen musste penibel belegt werden, allein infolge der Pandemie in Existenznot geraten zu sein. Dadurch waren massenhaft eigentlich akut Bedürftige durchs Raster gefallen. Die Juso-Hochschulgruppen setzen sich deshalb dafür ein, die individuelle Nachweispflicht einer Notlage generell zu streichen und beispielsweise durch eine Selbsterklärung zu ersetzen.
Ellenlange Befehlskette
Mehr Mut und Klarheit wünscht sich auch DSW-Generalsekretär Matthias Anbuhl. Der Notfallmechanismus wäre ein „wichtiger struktureller Fortschritt“, befand er am Mittwoch in einer Pressemitteilung. Die Umsetzung sei aber „noch zu kompliziert“. Nach den Plänen müsse zunächst der nationale Notstand festgestellt werden, dann entwerfe das Ministerium eine Verordnung, die vom Bundestag noch beschlossen werden muss, und erst anschließend werde die entsprechende Software für die BAföG-Ämter der Studierendenwerke programmiert. „Diese ‚Befehlskette‘ ist zu lang“, bemerkte der Verbandsvertreter.
Überdies hat das Instrument einen großen blinden Fleck. Für die rund 400.000 internationalen Studierenden in Deutschland soll es keine Anwendung finden. Dabei wurden die Ü-Hilfen zu rund 30 Prozent von Menschen mit ausländischem Pass in Anspruch genommen.
Zurück zum Centrum für Hochschulentwicklung und seinen Vorstellungen eines „großen Wurfs“ beim BAföG. Dieses müsse mit dem KfW-Studienkredit, anderen Bildungskrediten und den Ü-Hilfen als „Bundesstudienförderung“ zu einem umfassenden und in sich flexiblen „student funding-System“ gebündelt werden, schreibt der Thinktank. Dass daran Banken und Investoren bestimmt gut verdienen könnten – Stichwort „Brain Capital“ –, behält er für sich. Was auch zeigt: Bei den Bertelsmännern in Gütersloh bleibt man sich treu. (rw)
Korrektur 23.5.22: „Sonja Bolenius“ statt „Sonja Brolenius“ und der DGB fordert ein elternunabhängigeres BAföG, kein völlig elternunabhängiges.