Semestertickets zählenNeun-Euro-Ticket für Studierende
Das sogenannte Neun-Euro-Ticket kann kommen. Nach der Zustimmung durch Bundestag und Bundesrat in der Vorwoche war am 23. Mai 2022 bundesweiter Verkaufsstart für das unschlagbar günstige Angebot, Busse und Bahnen des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) von Anfang Juni bis Ende August für neun Euro monatlich nutzen zu können.
Die Offerte ist Teil des zweiten „Entlastungspakets“ der Bundesregierung zur Kompensation der im Gefolge des Ukraine-Kriegs massiv in die Höhe geschnellten Kosten für Energie und Lebensmittel. Bis zuletzt stand das Projekt in Frage, weil die Bundesländer eine stärkere finanzielle Unterstützung durch den Bund einforderten. Am vergangenen Freitag gaben sie trotz bestehender Differenzen grünes Licht für das Instrument, das auch ein Impulsgeber für die dringend nötige ökologische Verkehrswende sein soll.
Drei Monate Schönes-Wochenende
Die Deutsche Bahn (DB) und ebenso die meisten Verkehrsverbünde haben zu Wochenanfang mit dem Vertrieb begonnen. Die auf den Namen des Käufers ausgestellten und nicht übertragbaren Tickets werden im Internet, per App auf dem Smartphone, an Fahrkartenautomaten und in den Kundenzentren sämtlicher Verkehrsunternehmen in Deutschland angeboten. Anrecht darauf hat jede und jeder ab dem sechsten Lebensjahr, jüngere Kinder fahren weiterhin generell kostenlos.
Möglich ist auch der Erwerb im Dreimonatspaket, wofür es allerdings keinen Rabatt gibt. Fällig werden dann einmalig 27 Euro. Das Ticket, egal wo und bei welchem Anbieter erworben, gilt überall in der ganzen Republik sowohl im Nah- als auch im Regionalverkehr. Inbegriffen sind Linienbusse, Straßenbahnen, U-Bahnen, S-Bahnen und Regionalzüge der 2. Klasse, Regionalexpress-Züge und einzelne Fähren des Hamburger Verkehrsverbunds (HVV) sowie der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG).
Ausgeschlossen ist der gesamte Fernverkehr, also Reisen mit dem Intercity-Express (ICE), dem Intercity (IC) oder dem EuroCity (EC). Wer will, kann damit durch ganz Deutschland touren, wie seinerzeit per Schönes-Wochenende-Ticket, mit dem man in den 1990er-Jahren anfangs für 15 D-Mark im DB-Regionalverkehr von den Alpen bis zur Ostsee durchstarten konnte. Vielleicht ermöglicht das Neun-Euro-Ticket so auch manch einem Studierenden ein preisgünstiges und häufigeres Wiedersehen mit der Familie oder entfernt lebenden Freunden.
Besser ohne Fahrrad
Ein Sitzplatz lässt sich im Rahmen des Angebots nicht dazu buchen. Überhaupt dürfte es angesichts des großen Andrangs ziemlich eng werden, im Speziellen im Bahnverkehr. Deshalb rät die Deutsche Bahn von der Mitnahme von Fahrrädern ab, zumal dies im Preis nicht inbegriffen ist. Wer sich unnötigen Ärger ersparen will, sollte seinen Drahtesel besser zu Hause lassen. Ob ein Hund mitgeführt werden darf und zu welchen Konditionen, ist den Bestimmungen der jeweiligen Verkehrsverbünde zu entnehmen.
Gleichwohl bleiben ein paar Unwägbarkeiten, deren Ausgang insbesondere für Studierende vielfach noch ungeklärt ist. Prinzipiell gilt die Ansage aus Politik und seitens der Verkehrsanbieter: Wer bereits ein Monats- oder Jahresabo hat, soll nicht auf den geleisteten Mehrkosten sitzen bleiben. Der zu viel entrichtete Differenzbetrag werde den Betroffenen in jedem Fall erstattet beziehungsweise gutgeschrieben, heißt es.
„Normale“ Kunden sollen sich dabei um gar nichts kümmern müssen. „Es werden automatisch Reduzierungen bei bestehenden Abos vorgenommen, so dass nur die neun Euro pro Monat anfallen“, versichert etwa der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB). Die Abzüge werden später auf das jeweilige Kundenkonto zurücküberwiesen.
Rätselraten um Semestertickets
Für viele Studierende stellt sich die Situation komplizierter dar: Sie haben schon im Voraus des laufenden Sommersemesters als Teil des verpflichtenden Semesterbeitrags ein für ein halbes Jahr gültiges Ticket zur Nutzung des örtlichen ÖPNV bezahlt. Die Kosten dafür bewegen sich je nach Hochschulstandort zwischen 65 Euro (Augsburg für zwei Tarifzonen) und 225 Euro (Hannover für ganz „Niedersachsen & mehr“). Der zu viel gezahlte Betrag errechnet sich, indem man die Kosten halbiert (für April, Mai, September gilt weiter das Semesterticket) und davon 27 Euro (drei Neun-Euro-Tickets für Juni, Juli, August) abzieht.
Im Fall der Uni Augsburg ergibt sich so eine Differenz von fünf Euro und 50 Cent – eine vernachlässigbare Größe. Bei der Uni Hannover sind es dagegen über 85 Euro, die zu viel gezahlt wurden. Angesichts des in der Regel schmalen Budgets von Studierenden und der seit Monaten grassierenden Inflation fällt diese Summe durchaus ins Gewicht.
Wie aber genau das Neun-Euro-Ticket mit dem jeweils hochschulspezifischen Semesterticket zusammengebracht wird, dazu herrscht praktisch allerorten das große Rätselraten. Im Wesentlichen werden drei Modelle in Betracht gezogen: Demnach könnte das Geld zeitnah erstattet oder später erst, sprich zum kommenden Wintersemester mit dem dann wieder fälligen Semesterbeitrag verrechnet werden. Gemäß der dritten Variante würden Studierende das Neun-Euro-Ticket erst ab Oktober nachgelagert beanspruchen. Ob die dritte Variante tatsächlich irgendwo zum Tragen kommen soll, wissen wir leider nicht. Wir glauben eher nicht, können es aber nicht 100% ausschließen.
Informationen zu einigen Semestertickets
Bei folgenden Semestertickets ist sicher, dass sie als 9-Euro-Ticket zählen*. Das bedeutet, sie gelten im Juni, Juli und August bundesweit im Nah- und Regionalverkehr. Besondere Regeln vor Ort (Mitnahme von Fahrrädern etc.) bleiben aber nur lokal gültig. Sofern auch zu einer Beitragserstattung Infos vorliegen, stehen sie dabei. Wir listen zuerst landesweite Tickets bzw. Bekanntmachungen auf, dann nach Städten/Verbünden.
Berlin (BVG): Siehe 4. Abos und „Die Erstattung von Semestertickets erfolgt nach dem Aktionszeitraum ab September“
Brandenburg (VBB): „Die Erstattung von Semestertickets erfolgt nach dem Aktionszeitraum ab September“
Bremen und Niedersachsen: „Die Umsetzung zur Erstattung von Differenzbeträgen wird hochschulindividuell geregelt.“
Hessen: Rhein-Main-Verbund (u.a. Frankfurt, Darmstadt, Gießen, Marburg), Nordhessischer VerkehrsVerbund (u.a. Kassel, Göttingen)
Mecklenburg-Vorpommern (VMV): „Die Erstattung bzw. Verrechnung wird zwischen den Hochschulen bzw. den Studierendenräten und den Verkehrsunternehmen geregelt.“
Nordrhein-Westfalen: „Für die Abwicklung der Preisabsenkung bei den Semestertickets werden an den Hochschulen zurzeit individuelle Verfahren erarbeitet.“
Saarland (saarVV): An der Uni Saarbrücken gilt laut AStA: „Beitrag für das Semesterticket des WS 22/23 wird verringert. Studis, die im SS 2022 eingeschrieben sind und sich zum Wintersemester exmatrikulieren möchten erhalten keine Rückerstattung.“
Karlsruhe (KVV): Erstattung auf Antrag bzw. durch Vorlage des bar bezahlten Studitickets im Kundenzentrum
Leipzig (via Studentenwerk Leipzig): „Eventuell könnte sich durch die Einführung des Tickets der zu zahlende Semesterticketbeitrag für das Wintersemester 2022/23 reduzieren.“
Mainz, Uni: „Genauere Informationen [zur Rückerstattung] wird es voraussichtlich erst ab Ende Juni geben.“
München (MVV): Beitragssenkung Rückmeldegebühren WiSe 22/23
* Bei einigen Hochschulen gibt es mit dem Semesterausweis lediglich eine Abend/Wochenendnutzung, für die ganztägige Nutzung muss selbst noch das eigentliche Semesterticket dazugekauft werden. Hier gilt nur letzteres als 9-Euro-Ticket.
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Erstattung, Verrechnung, Nachlagerung
Letzteres hätte den Vorteil, dass sich die Angelegenheit mit vergleichsweise wenig Bürokratie regeln ließe. Anderseits könnten so aber durchaus zahlreiche Studierende komplett außen vor bleiben, sofern sie bis dahin ihr Studium beendet haben und im Wintersemester gar nicht mehr eingeschrieben wären.
Das erste Modell, also eine möglichst baldige Erstattung, zeichnet sich zum Beispiel für die Universitäten Münster und Bochum ab, beide in Nordrhein-Westfalen (NRW) gelegen. In Münster sei dies „sehr wahrscheinlich“, berichtete zuletzt das Onlineportal Business Insider. Für die Ruhr-Uni Bochum sagte deren Sprecher Arne Dessaul einen enormen Verwaltungsaufwand voraus. „Rein theoretisch müssten somit alle Studis je 79,98 Euro zurückerstattet oder verrechnet bekommen“, erklärte er. Bei 43.000 Hochschülern käme da reichlich Arbeit zusammen.
An der Uni Hamburg setzt man auf Lösung zwei. Laut Sprecherin Katrin Greve plane man für diejenigen, die im Herbst und Winter weiter studieren, eine Reduktion des Semesterbeitrags im Wintersemester um den fraglichen Differenzbetrag. Der beliefe sich in der Hansestadt auf knapp über 64 Euro. Die später Entschädigten sollten dann gleichwohl im Juni, Juli und August auf Neun-Euro-Basis im ÖPNV verkehren können. Jene, die im Sommer aus der Uni ausscheiden, erhielten dagegen eine Rückerstattung.
Wer hilft weiter? Alle und keiner
Einen ähnlichen Weg beschreitet man in Bayern. Dort hat das Wissenschaftsministerium den Hochschulen mitgeteilt, den sogenannten Solidarbeitrag für das kommende Wintersemester entsprechend den spezifischen Erfordernissen anzupassen. Die Studentenkanzlei der Ludwig-Maximilians-Universität München hat ihre Studierenden deshalb aufgefordert, die Beiträge für das Wintersemester 2022/23 so lange zurückzuhalten, bis alle Unklarheiten beseitigt sind.
Das ist bis auf weiteres allen Studierenden in ganz Deutschland zu raten. Solange nichts abschließend geklärt ist, hält man sein Geld besser zusammen.
Einmal mehr erlebt man aktuell, wie ein Projekt ohne die erforderlichen Vorarbeiten auf die Menschen losgelassen wird und die Politik die an der Basis Ausführenden bei der Umsetzung alleine lassen. Erschwert wird die Sache im konkreten Fall durch die Vielzahl der beteiligten Akteure: die Verkehrsunternehmen, die Allgemeinen Studierendenausschüsse (Asten), Studentenwerk, die Hochschule, dazu noch der Bund und das jeweilige Bundesland.
Entsprechend unklar ist dann auch, an wen sich die Betroffenen mit ihren Fragen richten sollen. Natürlich stünden die Studierendenwerke „grundsätzlich mit Rat und Tat zur Seite“, äußerte sich am Montag der Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks (DSW), Matthias Anbuhl, auf Anfrage von Studis Online. „Aber im Moment können sie auch nicht mehr sagen oder raten, als das, was bisher bekannt ist. Und es hängt tatsächlich von der Konstellation vor Ort ab, an wen sich die Studierenden am besten wenden: Hochschule, AStA, Studierendenwerk, Verkehrsanbieter selbst.“
Schlankes Antragsverfahren gefordert
Anbuhl wünscht sich „möglichst einfache und unbürokratische Lösungen“, wie er anmerkte. „Am einfachsten wäre es, den Rabatt zum kommenden Wintersemester zu erstatten.“ Dafür müsse ein schlankes Antragsverfahren gefunden werden. Zudem gab er zu bedenken, dass in den Fällen, in denen Studierendenwerke vertragsgemäß bei der Umsetzung des Neun-Euro-Tickets beteiligt sind, die Politik die entstehenden Mehrkosten übernehmen müsse.
Kritik übt auch der „freie zusammenschluss von student*innenschaften“ (fzs). Es brauche eine „adäquate Unterstützung der Studierendenvertretungen und Studierendenwerke in der Abwicklung der Rückzahlungen“, befand Vorstandsmitglied Daryoush Danaii am Montag in einer Medienmitteilung. Andernfalls drohe „ein finanzieller und personeller Mehraufwand, der so schlicht nicht zu bewältigen ist“. Die Landesstudierendenvertretungen müssten daher von den fraglichen Verkehrsbünden in die Planung eingebunden werden, „gleiches gilt für die Einbindung des fzs in weitere Planungen und Gespräche des Verkehrsministeriums“.
Den Stand der Planung beziehungsweise Planlosigkeit belegt eine Abfrage des Portals Ruhr 24 bei mehreren NRW-Hochschulen. Egal, bei welcher Stelle man nachhakt, ob AStA, Rektorat oder Studentenwerk, praktisch überall besteht weitgehende Ahnungslosigkeit, wie Studierende beim Neun-Euro-Ticket zu ihrem Recht und zu ihrem Geld kommen sollen.
Studierende schon wieder vergessen
„Leider lässt die Ampelkoalition bei ihren Entlastungspaketen die Studierenden im Regen stehen“, beklagte am Montag der stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Andreas Keller. So seien schon beim Heizkostenzuschuss „knapp 90 Prozent“ leer ausgegangen und die Energiepauschale von 300 Euro bekämen nur jene, die einkommenssteuerpflichtig sind. „Das sind die allermeisten nicht“, monierte er gegenüber Studis Online.
Nun wiederhole sich das „Trauerspiel“ beim Neun-Euro-Ticket, ergänzte der GEW-Hochschulexperte und stellte die Frage, ob ab 1. Juni wirklich alle Studierenden zum vergünstigten Tarif bundesweit den ÖPNV nutzen können. „Wenn ein Drittel aller Studierenden arm ist, wie der Paritätische Wohlfahrtsverband soeben in einer Studie ermittelt hat, dann darf die Bundesregierung sie nicht schon wieder mit ihren Sorgen und Problemen allein lassen.“
Berliner Nullnummer
Beim fzs hofft man derweil darauf, dass das Angebot der Auftakt zu mehr sein wird. Nach dessen Erprobung sollte „langfristig über eine kostengünstige Ausweitung der Ticketnutzung nachgedacht werden“, schlug Vorstandsmitglied Marie Müller vor und weiter: „Studentische Mobilität würde mit einem kostengünstigen und deutschlandweit gültigen Ticket stark gefördert werden.“
Über eine wirklich attraktive Lösung – auch für Studierende – hatte man in Berlin immerhin nachgedacht, wenn auch nur „kurzfristig“. Von der grünen Verkehrssenatorin Bettina Jarasch kam der Vorstoß, das Neun-Euro-Ticket kurzerhand in ein Null-Euro-Ticket umzuwandeln. Daraus wurde nichts, weil zu kompliziert. Was auch sonst? (rw)