Taufrisch und trotzdem überholtBundestag beschließt BAföG-Reform 2022
Bei aller Kritik: Das beschlossene 27. BAföG-Änderungsgesetz sollte tatsächlich zu mehr genehmigten BAföG-Anträgen führen. Ein Antrag zu stellen lohnt!
Ein bisschen mehr ist trotzdem zu wenig. Kurz vor Toresschluss haben die Ampelparteien doch noch eine Schippe drauf gelegt beim BAföG – oder treffender: ein Schippchen. Statt des eigentlich geplanten Aufschlags von fünf Prozent bei den Bedarfssätzen sollen es jetzt 5,75 Prozent werden. „Um den steigenden Lebenshaltungskosten Rechnung zu tragen“, heißt es dazu in der Beschlussempfehlung des Bildungsausschusses, der dem „27. Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes“ am Mittwoch den letzten Schliff verpasst hat.
Damit war die erste BAföG-Reform unter Federführung von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) reif für die abschließende Behandlung im Bundestag, die heute Vormittag in zweiter und dritter Lesung über die Bühne ging. Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen von SPD, Grünen und FDP sowie der Linksfraktion passierte das neue Regelwerk das Plenum des höchsten deutschen Parlaments. In Kraft tritt es am 1. August. Für Studierende hat es damit zum kommenden Wintersemester 2022/23 Geltung.
Inflation schlägt Förderplus
Der versprochene große Wurf war das Projekt von Anfang an nicht. Und die sogenannten Nachbesserungen reißen das auch nicht raus. Kritiker hatten sich zuletzt vor allem auf die zaghafte Erhöhung der Regelsätze eingeschossen. Fünf Prozent mehr kompensierten nicht einmal die Teuerungsraten bei Energie und Lebensmitteln, die speziell seit Beginn des Ukraine-Krieg durch die Decke gehen, monieren Studierendenvertreter, Gewerkschaften und Bildungsverbände.
Im Mai lag die Inflation – verglichen mit dem Vorjahresmonat – bei 7,9 Prozent. Selbst mit der Zugabe von 0,75 Prozent macht das bevorstehende BAföG-Plus nicht einmal den jüngsten Schub bei den Lebenshaltungskosten wett. Und ein Ende der Preisrallye ist nicht in Sicht. Im Herbst könnte die Situation noch viel ernster sein.
Außerdem: Seit mindestens zwei Jahrzehnten hecheln die Leistungen der Ausbildungsförderung den realen Erfordernissen hinterher. Im Gefolge etlicher Nullrunden und mehrerer halbherziger BAföG-Reformen sind die Preise, Löhne und Renten den Fördersummen für Schüler und Studenten weit enteilt. Diese Schieflage wird mit einer 5,75-Prozent-Erhöhung nicht einmal ansatzweise begradigt.
GEW fordert 1.200 Euro
Nach einer vor sechs Wochen vorgelegten Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands lebten schon 2019 knapp 45 Prozent aller Studierenden mit BAföG in Armut. Bei einem Höchstsatz von 853 Euro fehlten ihnen zu einem armutssicheren Auskommen mehr als 400 Euro.
Wollte die Regierung das Versäumte wirklich nachholen, müsste sie da landen, wo etwa die Gewerkschaft Erziehung und Wissenshaft (GEW) hinwill: „Unser Ziel ist ein BAföG-Höchstsatz mindestens in Höhe des steuerlichen Existenzminimums von 1.200 Euro“, äußerte sich Verbandsvize Andreas Keller am Mittwoch. Mit Stark-Watzingers Nachschlag wären es maximal 934 Euro.
Auch die auf den ersten Blick ambitioniert wirkende Erhöhung der Elternfreibeträge droht hinter den Erwartungen zurückzubleiben. Wie die GEW mitteilte, rechnet selbst das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit einem ziemlich kümmerlichen Anstieg bei den Gefördertenzahlen. Demnach könnte der Anteil der BAföG-Profiteure unter allen derzeit knapp 2,9 Studierenden in Deutschland um 1,8 Prozentpunkte zulegen. Heute beträgt die Quote elf Prozent.
Nicht einmal Symbolpolitik
Allerdings ist die Kalkulation inzwischen überholt, weil dabei von einer Anhebung der Freibeträge um 20 Prozent ausgegangen wurde. Obwohl in diesem Punkt nahezu unbedrängt, serviert die Regierung nämlich auch hier einen Nachschlag, ebenfalls um ein dreiviertel Prozentpünktchen auf jetzt 20,75 Prozent. Das Symbolpolitik zu nennen, wäre zu gnädig. Und weshalb Stark-Watzinger den Spielraum nicht genutzt hat, um ein Stückchen stärker bei den Fördersätzen draufzusatteln, bleibt wohl ihr Geheimnis.
Wirklich mehr Geld sollen die Änderungen aber gar nicht kosten. Finanziert werden die „Schöheitskorrekturen“ (Nicole Gohlke von Die Linke gegenüber Studis Online) durch Kürzungen an anderer Stelle. Ursprünglich sollte der Vermögensfreibetrag für alle Studierenden auf 45.000 Euro hochgesetzt werden, was bei aktuell 8.200 Euro ein wahrhaft mächtiger und eigentlich unangemessener Sprung gewesen wäre.
Staffelung beim Schonvermögen
Nun wird beim Schonvermögen eine Altersgrenze eingezogen: Unter 30jährige dürfen höchstens 15.000 Euro besitzen, die nicht aufs BAföG angerechnet werden. Für Hochschüler über 30 Jahren bleibt die Schwelle bei 45.000 Euro bestehen. Damit wird nebenbei dem Risiko von Missbrauch begegnet. Unter anderem das Deutsche Studentenwerk (DSW) hatte im Anhörungsverfahren auf Szenarien verwiesen, bei denen sich Eltern durch Vermögensübertragung auf ihre Kinder aus der Unterhaltspflicht hätten mogeln können. Diesem Einwand wurde mit der Altersstaffelung offenbar Genüge getan, womit laut DSW-Pressestelle die „Kuh vom Eis ist“.
Die Freude über das Erreichte fällt bei Verbandsgeneralsekretär Matthias Anbuhl dennoch gebremst aus. Zwar sei es gut, dass den Studierenden mit einer schnellen Anhebung der Freibeträge und Bedarfssätze „weitere Nullrunden erspart“ blieben. „Rasch nachlegen“ müsse die Regierung allerdings bei den Bedarfssätzen. Um Kaufkraftverluste zu vermeiden, sollten diese „um mindesten zehn Prozent“ angehoben werden. Schritte in Richtung einer „regelmäßigen BAföG-Erhöhung“, die an die Lohn- und Preisentwicklung zu koppeln sei, müssten schon jetzt vorbereitet werden.
Das aber ist längst nicht ausgemacht, wenngleich die Koalitionsfraktionen per Entschließungsantrag folgendes gefordert haben: „Das BMBF wird gebeten ein Verfahren zur regelmäßigen Anpassung der Freibeträge und Bedarfssätze zu entwickeln.“ Das Wort Automatismus wird aber vermieden. Immerhin sollten die Freibeträge für Hinzuverdienste turnusmäßig mit der Minijob-Grenze aufwachsen, „um mit der Lebensrealität der Studierenden Schritt zu halten“, wie im Bildungsausschuss die Grünen-Politikerin Nina Stahr erklärte.
Warten auf Automatismus
Auch die BMBF-Chefin macht um den Begriff Automatismus einen Bogen. Das höre sich immer so schön an, sagte sie Anfang April in einem Interview mit dem Wissenschaftsjournalist Jan-Martin Wiarda, „hat aber auch den Nachteil, dass wir dann nicht mehr auf besondere Entwicklungen reagieren und auch mal mehr machen können, wenn es nötig ist“.
Mal mehr machen? In die 2000er-Jahre fallen bisher allein zwei Sechs-Jahres-Phasen, in denen die Fördersummen komplett eingefroren waren – von 2002 bis 2008 und zwischen 2010 und 2016. Auch sonst gab es nie „mal mehr“ als das unbedingt Nötige, sondern in aller Regel viel zu wenig. Immerhin spricht Stark-Watzinger von einem „regelmäßigen Prozess“, einem „sinnvollen Rhythmus“ und davon, dass künftig nicht mehr „nach Kassenlage“ entschieden werde. Was das bedeutet, muss derweil die Zukunft zeigen, nachdem auch ihre taufrische Reform ganz augenscheinlich „nach Kassenlage“ gestrickt ist.
Nach der Reform ist vor der Reform, mahnt neben dem DSW auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Erforderlich seien eine pauschale Erhöhung der Bedarfssätze „um 150 Euro und ein Mietkostenzuschuss, der sich am Wohngeldgesetz orientiert“. Des Weiteren fehlten „zentrale Schritte für eine echte Strukturreform: also raus aus der Schuldenfalle, hin zum Vollzuschuss, mehr Elternunabhängigkeit sowie eine realistische Förderungshöchstdauer“. Ferner dürfe die Einführung einer Studienstarthilfe für besonders bedürftige Neustudierende darf „nicht auf die lange Bank geschoben werden“.
Notfallmechanismus in erster Lesung
Dagegen wurden heute im Parlament beschlossen: höhere Zuschläge für Miete, Kranken- und Pflegeversicherung, mehr Geld für die Kinderbetreuung Studierender, eine Erhöhung der Altersgrenzen von 30 Jahren bei BAföG-Beginn auf 45 Jahre sowie höhere Zulagen auch für Schüler und Azubis.
Beraten hat der Bundestag außerdem in erster Lesung eine Gesetzesvorlage zur Einführung eines sogenannten Notfallmechanismus. Studierende sollen demnach in außergewöhnlichen gesellschaftlichen Krisensituationen – wie zuletzt die Pandemie oder neuerdings der Ukraine-Krieg – staatliche Unterstützung erhalten, um nicht wegen finanzieller Zwänge ihr Studium aufgeben zu müssen.
Das Instrument soll planmäßig vor der Sommerpause beschlossen und zum anstehenden Wintersemester in Kraft treten. Allerdings steht auch dieses Vorhaben in der Kritik. Zum Beispiel bleiben internationale Studierende zu Hunderttausenden komplett außen vor, obwohl sie von der Corona-Krise am heftigsten gebeutelt wurden.
Keine Wohngeld-Erhöhungskürzung
Meldungen vom Mittwoch, wonach auch das BAföG-Wohngeld um 5,75 Prozent steigen soll, sind unzutreffend. In der verabschiedeten Gesetzesfassung ist weiterhin von einer „überproportionalen Anhebung“ auf 360 Euro die Rede. Bei 5,75 Prozent käme man beim aktuellen Stand von 325 Euro auf nur knapp 344 Euro. Eine Erhöhungskürzung wäre auch schwer vermittelbar gewesen.
Stark-Watzinger hatte wiederholt bekundet, noch in der laufenden Legislaturperiode eine zweite BAföG-Novelle anstoßen und dabei den Kreis der Anspruchsberechtigten ausbauen zu wollen, etwa in puncto besserer Vereinbarkeit von Studium und Familie. Forderungen nach einer Rückkehr zur Vollförderung (ohne Darlehensanteil) und einem komplett elternunabhängigen BAföG, wie sie von Gewerkschaften und der Linkspartei kommen, werden absehbar nicht auf ihrer Agenda stehen.
Ansonsten läuft alles wie gehabt: Die neuste BAföG-Reform ist schon am Tag ihres Beschlusses und noch mehr bei Inkrafttreten hoffnungslos überholt. Kristof Becker, Bundesjugendsekretär der bei der DGB-Jugend brachte das heute so auf den Punkt: „Angesichts der aktuell dramatischen Teuerungsrate muss man nun wirklich kein Mathegenie sein, um zu sehen, dass die Erhöhung vorne und hinten nicht reicht.“ Zusammen mit Lone Grotheer vom fzs ist das Fazit: „BAföG-Reformen sind Flickwerk.“ (rw)