„Es geht ums Existenzielle!“Studieren im Endloskrisenmodus
Studis Online: Herr Anbuhl, Sie bekleiden Ihr neues Amt seit nicht einmal neun Monaten. Als Sie loslegten, war Corona noch das bestimmende Thema für die Hochschulen, nun ist es seit vielen Wochen der Ukraine-Krieg. Die Inflation erreicht im Monatstakt neue Rekordstände, was die Studierenden vor erhebliche finanzielle Herausforderungen stellt. Hätten Sie sich Ihren Einstand als DSW-Generalsekretär weniger turbulent gewünscht?
Matthias Anbuhl: Das konnte ich mir nun mal nicht aussuchen, also macht es wenig Sinn, sich nun im Konjunktiv zu überlegen, was ich mir gewünscht hätte, wenn … Aber ja, ich bin in meiner neuen Funktion als Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks gleich im Krisenmodus gestartet, aber da war die DSW-Geschäftsstelle, da waren die Studierendenwerke ohnehin schon. Es sind eben turbulente Zeiten.
Sie wollten in Ihrer neuen Funktion sicherlich als Gestalter glänzen. Jetzt sind Sie vor allem als Krisenmanager gefragt. Was treibt Sie in diesen Tagen am meisten um?
In jeder Krise steckt auch eine Chance. Die vergangenen zwei Jahre haben gezeigt, wie wichtig eine exzellente soziale Infrastruktur auch an den Hochschulen ist. Bund und Länder müssen hier investieren. Was mich umtreibt? Der furchtbare Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine – natürlich vor allem wegen des Blutvergießens und unermesslichen Leids in diesem Land. Aber auch die anderen Folgen dieses Kriegs, wie die psychische Belastung der Studierenden oder die sozialen Folgen wie die krassen Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln. Diese schlagen voll durch auf die Studierenden und die Studierendenwerke und stellen für sie eine enorme finanzielle Belastung dar. Wir fordern deshalb einen Nachschlag bei den BAföG-Bedarfssätzen für Studierende und dass auch die Studierendenwerke als gemeinnützige, gemeinwohlorientierte Organisationen der staatlichen Daseinsvorsorge von den geplanten Unternehmenshilfen der Bundesregierung profitieren.
Sie haben zuletzt am Montag der Vorwoche am Tag der Beratungen im Kanzleramt über eine sogenannte Konzertierte Aktion zur Bewältigung der Krisenfolgen öffentlich gemahnt, auch die 2,9 Millionen Studierenden in Deutschland „in den Blick zu nehmen“. Hat man Sie erhört?
Das werden wir noch sehen. Die Bundesregierung muss die gesamte Gesellschaft im Blick haben. Uns geht es darum, auf die besondere Lage der Studierenden und der Studierendenwerke aufmerksam zu machen und auf das Hochschulsystem insgesamt. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger hat vergangene Woche gefordert, Bildungseinrichtungen wie Schulen zur kritischen Infrastruktur zu zählen, die bei Gaslieferengpässen bevorzugt behandelt werden, um so Schulschließungen wegen eines möglichen Gasmangels zu verhindern. Das finde ich richtig und ich bin der Meinung, das muss genauso fürs Hochschulsystem gelten. Auch die müssen als kritische Infrastruktur gesehen werden.
Was haben die „Entlastungspakete“ für Studierende gebracht?
Nun hat die Bundesregierung ja bereits zwei sogenannte Entlastungspakete zur Abfederung der Krisenfolgen aufgelegt. Wie hilfreich sind die Hilfen für Studierende?
Viele der Studierenden profitieren von den getroffenen Maßnahmen, das muss man fairerweise sagen. Zum Beispiel betrifft dies das Neun-Euro-Ticket, für das ihnen der Differenzbetrag zum Semesterticket erstattet wird. Auch dank unserer Intervention erhalten die BAföG-geförderten Studierenden wie auch Empfängerinnen und Empfänger von Wohngeld den einmaligen Heizkostenzuschuss. Und jobbende Studierende in Minijobs, wenn sie denn Einkommenssteuer abführen, bekommen die einmalige Energiesparpauschale von 300 Euro. All das ist zweifellos hilfreich.
Angesichts der drohenden Energie- beziehungsweise Gaskrise müssen Bund und Länder allerdings gemeinsam weitere Hilfen auf den Weg bringen. Das gilt für die Studierenden, aber auch die Studierendenwerke, die die enormen Preissteigerungen nicht eins zu eins an die Studierenden weitergeben können und wollen. Teilweise sind die Studierendenwerke schon jetzt gezwungen, wegen der massiven Teuerung beim Gas die Mieten in ihren Wohnheimen drastisch zu erhöhen. Dieser Spirale muss politisch entgegenwirkt werden, die Studierendenwerke benötigen hier unbedingt staatliche Hilfe, im Interesse der Studierenden.
Weniger wohlwollend könnte man feststellen, dass die Politik die Studierenden nach über zwei Jahren Pandemie einmal mehr auch in der Ukraine-Krise ziemlich im Stich lässt. Welche Erklärung haben Sie für die fortgesetzte Gleichgültigkeit?
Unser Interviewpartner Matthias Anbuhl, Jahrgang 1970, ist Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks (DSW), in dem die 57 Studenten- und Studierendenwerke in Deutschland zusammengeschlossen sind. Er übernahm das Amt am 1. Oktober 2021, nachdem er zuvor über zehn Jahre lang die Abteilung Bildungspolitik und Bildungsarbeit beim Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) geleitet hatte.
Ich würde nicht von Gleichgültigkeit sprechen. Die Vorgängerregierung hat zumindest während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 relativ rasch finanzielle Maßnahmen für die Studierenden getroffen, darunter die von den Studierendenwerken umgesetzte Überbrückungshilfe des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Wir hätten uns lieber eine Öffnung des BAföG gewünscht, dennoch hat der Schritt vielen Studierenden über die ärgsten Nöte hinweggeholfen.
Die aktuelle Bundesregierung hat sich eine weitreichende und ambitionierte BAföG-Reform auf die Fahnen geschrieben und von einigen ihrer Entlastungsmaßnahmen profitieren auch die Studierenden. Noch einmal: Der Angriffskrieg gegen die Ukraine und dessen wirtschaftliche Folgen belasten die Gesellschaft insgesamt und ich habe schon den Eindruck, dass die Politik die Studierenden im Blick hat, wenngleich jetzt eben noch mehr an staatlicher Hilfe kommen muss.
Zumal es ja auch immer heißt, Bildung sei der wertvollste Rohstoff, über den Deutschland verfüge.
Ja und das gilt für mich fürs gesamte Bildungssystem, für die frühkindliche Erziehung, die Schulen, die berufliche Bildung bis hin zur Weiterbildung. Schon vor der Pandemie war die soziale Spaltung die offene Wunde unseres Bildungssystems und diese Entwicklung hat sich leider noch verschärft. Hier müssen wir ansetzen und das unter den Voraussetzungen einer zumindest europaweiten Wirtschafts- und Energiekrise und leider weiterhin anhaltenden Pandemie. Wegen der Pandemie haben Schülerinnen und Schüler Lerndefizite und die Studierenden sind psychisch und finanziell belastet. Wir müssen verhindern, dass die multiplen Krisen zu Studienabbrüchen führen.
Worin sehen Sie die größten Härten und Erschwernisse für Studierende nach inzwischen zweieinhalb Jahren im Krisenmodus?
Die psychosozialen Beratungsstellen der Studierendenwerke werden förmlich überrannt. An vielen Standorten hat sich die Wartezeit vervielfacht. Was mich noch mehr umtreibt, ist die qualitative Dimension dieser Entwicklung. Bis vor der Pandemie waren zumeist „klassische“, also studienbezogene Probleme der Grund, warum Studierende die psychologische Beratung ihres Studierendenwerks aufsuchten: Arbeitsstörungen, Prüfungsängste, das Aufschieben von Aufgaben, also Prokrastination, Schwierigkeiten beim Studienabschluss. Nach vier Pandemie-Semestern, drei davon als reine Onlinesemester, ist die psychische Belastungs- und Problemlage deutlich existenzieller, gravierender. Es geht um soziale Isolation und Vereinsamung, die grundsätzliche Infragestellung des Studiums und in hohem Maße auch um depressive Verstimmungen, Hoffnungslosigkeit, bis hin zu suizidalen Gedanken. Es geht ums Existenzielle!
Und Besserung ist nicht in Sicht …
Leider ja. Wegen der förmlich explodierenden Energiekosten kommen auf Studierende enorme finanzielle Belastungen zu. Das gilt sowohl für die rund zehn Prozent derer, die in einem Wohnheim ihres Studierendenwerks leben, als auch für diejenigen, die auf den freien Wohnungsmärkten unterkommen. Die Erhöhung der Nebenkosten und Mieten kann für viele existenz- beziehungsweise studiengefährdend werden. Zur Erinnerung: Gemäß unserer 21. Sozialerhebung zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Studierenden haben sie im Monat rund 918 Euro zur Verfügung. Ihr mit Abstand größter Ausgabenposten ist die Miete, die verschlingt mehr als ein Drittel ihrer Einnahmen. Diese Zahlen sind aus dem Jahr 2016 und neuere bekommen wir leider erst im kommenden Jahr mit der 22. Sozialerhebung.
Mensaessen wird teurer – z.B. Burger 4,55 € statt 3,45 €
Und dann ist das noch die Teuerung bei den Lebensmitteln. Trifft es zu, dass mancherorts bereits die Preise für das Mensaessen gestiegen sind?
Ja, absolut. Grund sind die durch den Ukraine-Krieg stark gestiegenen Einkaufspreise für Lebensmittel und die deutlich höheren Betriebskosten der Mensen. Ein konkretes Beispiel aus Kiel: Einen Rindfleisch-Burger mit Mozzarella, Tomate, Basilikum-Aioli und Kartoffelspalten konnte das Studentenwerk Schleswig-Holstein bisher für 3,45 Euro anbieten. Der Preis muss jetzt auf 4,55 erhöht werden. Der Einkaufspreis für das beliebte Gericht war in den vergangenen Monaten um mehr als 48 Prozent nach oben geschossen, von knapp 1,77 Euro auf 2,62 Euro.
Das schlägt auf den Magen beziehungsweise die Geldbörse.
Richtig. Als gemeinnützige, soziale, nichtprofitorientierte Organisationen der öffentlichen Daseinsvorsorge können und wollen die Studierendenwerke solche Preissteigerungen nicht eins zu eins an die Studierenden weitergeben. Sonst müssen diese für ihr Mensaessen bald deutlich mehr bezahlen. Alternativ wären die Studierendenwerke gezwungen, die Beiträge für die Studierendenwerke zu erhöhen.
Beides träfe vor allem Studierende aus einkommensschwächeren Haushalten und ihre Familien und damit würde sich die ohnehin stark ausgeprägte soziale Selektivität im deutschen Hochschulsystem weiter verschärfen. Das ist Gift für die Chancengleichheit und die aktuelle BAföG-Reform würde geradezu konterkariert. Für mich ist klar: Wenn die Bundesregierung aufgrund der Inflation Wirtschaftshilfen für Unternehmen entwickelt, sollten diese Maßnahmen auch die Studierendenwerke umfassen.
Welche Rolle spielen daneben die Bundesländer?
Die Länder haben seit Anfang der 1990er-Jahre ihre Zuschüsse an die Studierendenwerke auf rund zehn Prozent von deren Gesamteinnahmen zurückgefahren. Auch sie müssen ihre Studierendenwerke finanziell stärker unterstützen, damit diese ihr Preisniveau einigermaßen halten können. Kurzum: Wer die Studierenden entlasten will, muss die Studierendenwerke stärker fördern. Dass Nordrhein-Westfalen jetzt im Koalitionsvertrag ein Plus bei den Mitteln für die Studierendenwerke festgeschrieben hat, macht mir Hoffnung.
Was getan werden müsste …
Was konkret fordern Sie von der Bundesregierung?
Wir brauchen ein sattes Plus bei den BAföG-Sätzen, mehr Hilfen für die Studierendenwerke und gemeinsam mit den Ländern den Ausbau der psychosozialen Beratung. Denn die Studierenden stehen weiterhin unter Strom. In den ersten Bundesländern – wie Schleswig-Holstein, Thüringen und Baden-Württemberg – gib es hier einen ersten befristeten Ausbau. Doch wir brauchen hier noch mehr Mittel und das dauerhaft.
Was ist mit weiteren individuellen Hilfen für Studierende, nicht nur für jene im BAföG-Bezug? Was schwebt Ihnen hier vor, auch in puncto Größenordnung?
Das ist im Moment schwer zu sagen, weil die Lage so volatil ist und sich von Tag zu Tag ändert, sich tendenziell eher verschlechtert, auch, was das Infektionsgeschehen angeht. Wenn die Sozialverbände für Familien beziehungsweise Menschen mit geringen Einkommen Miethilfen oder Ähnliches fordern, ist das gut. Davon müssten Studierende grundsätzlich auch profitieren können.
Die jüngst beschlossene BAföG-Novelle stellt Ihren Verband nur teilweise zufrieden. Sie vermissen strukturelle Neuerungen und hätten sich deutlich höhere Bedarfssätze gewünscht. Diese steigen lediglich um 5,75 Prozent. Als Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) die Eckpunkte ihrer Reform im Frühjahr vorlegte, war die Tragweite der durch den Ukraine-Krieg losgetreten Krise noch nicht wirklich absehbar. Lassen Sie das als Ausrede gelten?
Frau Stark-Watzinger und ihr Ministerium können ja nicht in die Zukunft blicken. Der Krieg gegen die Ukraine hat uns alle überrascht. Bei der BAföG-Reform sehe ich Licht und Schatten: Die Anhebung der Elternfreibeträge und der Altersgrenzen ist gut. Es ist auch richtig, dass die Ministerin die BAföG-Anpassung gleich angegangen ist, dass den Studierenden so weitere Nullrunden erspart wurden. Und dennoch bleibt die Regierung bei den Bedarfssätzen hinter dem Notwendigen zurück. Bereits 2016 hätte nach den Ergebnissen unserer Sozialerhebung der Grundbedarf zwischen 500 und 550 Euro liegen müssen. Da reicht eine Anhebung auf 452 Euro bei weitem nicht, zumal die Preise weiter gestiegen sind.
Bräuchte es bei der galoppierenden Inflation nicht eigentlich ein „mitgaloppierendes“ BAföG. Nur wie wollte der Gesetzgeber das haushaltstechnisch bewerkstelligen?
Das ist in der Tat schwierig. Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn wir beim BAföG zu dem Automatismus gelangten, den wir als Deutsches Studentenwerk seit langem fordern. Dass es eben regelmäßig, am besten anhand der alle zwei Jahre vorzulegenden BAföG-Berichte, an die Entwicklung von Preisen und Einkommen angepasst wird. Wir sind grundsätzlich dafür, dass es dann keine losgelösten Einmalzahlungen gibt, sondern eben einen Ausgleich innerhalb des BAföG, das existenzsichernd sein muss. Mit der BAföG-Härteverordnung hat die Bundesregierung übrigens bereits jetzt ein Instrument, über das es plötzliche Bedarfssteigerungen gut lösen kann.
Hinzu kommt demnächst der geplante sogenannte Notfallmechanismus im BAföG, wobei Sie auch hier noch Luft nach oben sehen. Welche sind für Sie die größten Mängel der Gesetzesvorlage?
Dass im Rahmen der 28. BAföG-Novelle ein Notfallmechanismus eingeführt werden soll, finden wir grundsätzlich gut, haben wir doch genau diese Forderung schon länger gestellt. Das BAföG bietet für Krisenlagen eine bestehende und funktionierende Infrastruktur. Es sollen dann auch Studierende dieses Not-BAföG bekommen, die bisher kein BAföG erhalten haben. Voraussetzung ist eine Störung des Arbeitsmarktes für studienbegleitendes Jobben, die der Bundestag zunächst festzustellen hätte. Aber wir sehen noch Probleme bei der konkreten Umsetzung. Wir wünschen uns ein schnelleres und schlankeres Verfahren und die ausländischen Studierenden müssen unbedingt berücksichtigt werden.
Zum Schluss ein Ausblick in die Zukunft. Was ist an den Hochschulen zum Wintersemesterstart im Herbst los, wenn Ihre Appelle an die Regierenden folgenlos verhallen?
Wenn mich die vergangenen Monate in meinem Amt als DSW-Generalsekretär eines gelehrt haben, dann dies: Mich mit Vorhersagen oder Szenarien zurückzuhalten. Stand heute will ich keine Prognose wagen, wie das Wintersemester laufen wird. Ich hoffe, es wird mit einem überwiegenden Anteil von Präsenzlehre und einer guten Unterstützung für Studierende laufen. Aber wer weiß das schon in diesen Zeiten?
(rw)