Schwere Kost vom PhrasenschweinKein Zeitplan für nächste BAföG-Reform
Der Tenor der Kritiker ist einhellig: Die von der Bundesregierung in Aussicht gestellte Einmalzahlung von 200 Euro für Studierende zur Linderung der durch die anhaltende Rekordinflation verursachten Härten, reicht nicht. Ein nette Geste sei das, ein Zeichen, die knapp 2,9 Millionen Hochschüler in Deutschland nicht zu vergessen – mehr aber auch nicht.
Der Bund müsse den Betroffenen monatliche Hilfen anbieten und das langfristig, meint etwa der Geschäftsführer des Studierendenwerks Hamburg, Jürgen Allemeyer. Nötig wären vor allem auch rasche Nachbesserungen bei der Bundesausbildungsförderung (BAföG), indem man zum Beispiel „systematisch den Mietanteil im BAföG“ und „gleichzeitig die Freibeträge so erhöht, dass die Gruppe der Bezugsberechtigten vergrößert wird“.
Man erinnert sich: Noch bevor die zum laufenden Wintersemester in Kraft getretene 27. BAföG-Novelle in Kraft getreten war, hatte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger verkündet, noch in der laufenden Legislaturperiode weitere „Anpassungsnotwendigkeiten“ in Angriff zu nehmen. Insbesondere wolle man die Unterstützung in „einem zweiten Schritt“ elternunabhängiger machen, erklärte die FDP-Politikerin.
Gelassenheit beim BMBF
Studis Online hat beim Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) nachgefragt, wie weit die Pläne gediehen sind und welche konkreten Maßnahmen auf der Agenda der Ampelregierung stehen. Auch wollten wir wissen, ob angesichts der drastischen Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln eine besondere Eilbedürftigkeit dafür bestehe, weitere Erleichterungen beim BAföG auf den Weg zu bringen. Im Wortlaut: „Haben genannte politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen keinen Einfluss auf die zeitlichen Planungen?“
Die Antwort fiel ernüchternd aus: „Der Zeitplan für die nächste Reform des BAföG steht noch nicht fest“, verlautete von der Pressestelle, die zur Begründung auf das gerade Erreichte verwies. So habe man mit der jüngsten Reform „signifikante Steigerungen bei den Freibeträgen, Bedarfssätzen und dem Wohnkostenzuschlag gleich zu Beginn dieser Legislaturperiode umgesetzt“. Überdies hätten BAföG-Empfänger, die nicht mehr zu Hause wohnen, einen Anspruch auf den Heizkostenzuschuss von 230 Euro. Zwar wolle man „weiterhin zügig Reformschritte angehen“, deren Inhalte stünden aber „noch nicht im Einzelnen fest“.
Offenbar herrscht im Hause Stark-Watzinger große Gelassenheit, während zeitgleich mutmaßlich Hunderttausende Studierende im Land von existenziellen Sorgen bedrückt werden. Dabei lebte schon vor der Corona- und der anschließenden Ukraine-Krise gut ein Drittel aller Studierenden in Armut. Unter den BAföG-Empfängern traf dies auf knapp 45 Prozent zu. Die Lage dürfte sich inzwischen deutlich zugespitzt haben – trotz der jüngsten BAföG-Reform.
GEW fordert 1.200 Euro
Von der sagt Andreas Keller, Vizevorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), dass sie weit an den Erfordernissen vorbeigegangen ist. Es sei schon lange klar gewesen, „dass eine Anhebung der Bedarfssätze um 5,75 Prozent mit den Preis- und Kostensteigerungen, insbesondere auf dem Immobilienmarkt, nicht Schritt hält“, äußerte er am Dienstag im Gespräch mit Studis Online.
„Selbst der BAföG-Höchstsatz von 934 Euro ist längst nicht existenzsichernd“, setzte Keller nach und wies auf einen GEW-Beschluss beim außerordentlichen Gewerkschaftstag im Juni hin. Danach müsste der Satz auf monatlich 1.200 Euro angehoben werden. Außerdem solle es künftig „jährliche Anpassungen an die Preis- und Lohnentwicklung“ geben sowie eine „Überarbeitung der Berechnungsgrundlage“.
In anderen Politikfeldern zeigen sich die Koalitionäre durchaus lernfähig. Das geplante Bürgergeld (anstelle von Hartz IV) soll laut Beschlusspapier zum „dritten Entlastungspaket“ so geändert werden, „dass jeweils bereits die zu erwartende regelbedarfsrelevante Inflation im Jahr der Anpassung miteinbezogen wird“. Warum kann man das nicht auch beim BAföG so handhaben?
Baustelle Kindergrundsicherung
Beim BMBF hält man sich hier auffällig bedeckt. Wie man zu Überlegungen stehe, die Förderung BAföG in einen Vollzuschuss umzuwandeln oder die Leistungen automatisch mit der Inflation wachsen zu lassen, fragte Studis Online. Antwort: Fehlanzeige. Stattdessen ein Verweis auf den Koalitionsvertrag: Darin seien „insbesondere Reformen hinsichtlich Förderungshöchstdauer und Fachrichtungswechsel vereinbart sowie weitere Vereinfachungen bei der Antragstellung und die Einführung einer Studienstarthilfe“.
Bezug genommen wird außerdem auf das neu geplante Instrument einer Kindergrundsicherung, die künftig direkt an Studierende ausbezahlt werden soll. Der Einstieg in eine elternunabhängigere Förderung könne aber „sinnvollerweise nur im Zusammenspiel“ damit geplant werden, gab Pressesprecherin Jutta Wagemann zu bedenken. Auch Stark-Watzinger hatte wiederholt durchblicken lassen, dass sie ihre „zweite Stufe“ beim BAföG erst zünden möchte, sobald die Kindergrundsicherung unter Dach und Fach ist.
Das Problem: Das Vorhaben ist hochkomplex, weil es Dutzende Leistungen für Heranwachsende zusammenfassen soll, was wiederum etliche Zuständigkeiten berührt. Die Regierung hat bisher lediglich eine interministerielle Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundesfamilienministeriums eingerichtet. Der Ausgang des Verfahrens ist völlig offen und selbst ein Scheitern in der laufenden Wahlperiode (wie schon in der vorangegangenen) nicht ausgeschlossen. Und selbst wenn Familienministerin Lisa Paus (Grünen-Partei) den erhofften Starttermin zum Jahresbeginn 2025 einhalten sollte, hieße das ziemlich sicher, dass bis zu einem – jetzt schon überfälligen – BAföG-Nachschlag noch über zwei Jahre ins Land gehen würden.
Förderzahlen im freien Fall?
Die Auswirkungen könnten verheerend sein, nicht nur, weil bis dahin womöglich Zigtausende junger Menschen trotz BAföG ihr Studium aus nackter Not werden hinschmeißen müssen. Ziehen die Preise und zeitversetzt die Löhne weiterhin auf hohem Niveau an, werden auch immer weniger BAföG-Neuempfänger nachrücken, da sie auf Basis der 2022er-Reform nicht förderwürdig sind.
Tatsächlich hat das BMBF dazu sogar eine düstere Prognose vorliegen, eingeholt beim Fraunhofer-Institut für angewandte Informationstechnik. Ohne eine zügige und umfassende Reform könnte die Zahl der Begünstigten (Studierende und Schüler) demnach bis 2025 um weitere über 150.000 abschmieren. Dabei machen heute schon lediglich rund elf Prozent aller Studierenden BAföG-Ansprüche geltend.
Beim BMBF spricht man zwar von einer „beträchtlichen Schätzunsicherheit“ und davon, dass der „hypothetische Verlauf“ nicht den Regierungsplänen entspreche. Vielmehr könne die jüngste Reform zu „Verhaltensanpassungen bei der Zielgruppe“ führen, wenn wegen der öffentlichen Aufmerksamkeit mehr Menschen die Ausbildungshilfe beantragen. Dafür aber hätte es wohl einen größeren Wurf gebraucht. Die bescheidene Erhöhung zum 1. August wurde allein vom Preisschub des ersten Halbjahres bereits mehr als aufgefressen.
Notfallmechanismus unbrauchbar
GEW-Vize Keller sieht deshalb schon jetzt „Gefahr im Verzug“. Kurzfristig solle die Ampelkoalition den noch in der parlamentarischen Beratung befindlichen sogenannten Notfallmechanismus so umarbeiten, dass er möglichst umgehend in Kraft gesetzt werden könne. Das per 28. BAföG-Änderungsgesetz in den Bundestag eingebrachte Projekt sieht für außergewöhnliche gesellschaftliche Krisensituationen vor, dass Studierende – nicht nur die im BAföG-Bezug – staatliche Hilfen erhalten, um nicht wegen finanzieller Zwänge ihr Studium aufgeben zu müssen.
Danach gefragt, ob nicht bald der Punkt erreicht sei, an dem das Instrument zur Anwendung kommen könnte, und welche Kriterien dafür erfüllt sein müssten, regierte das BMBF einmal mehr ausweichend. Die Nothilfe greife, „wenn der Bundestag eine bundesweite Notlage für Auszubildende im Hinblick auf erhebliche Nachfrageeinbrüche auf dem Arbeitsmarkt für ausbildungsbegleitende Erwerbstätigkeiten festgestellt hat“, beschied Sprecherin Wagemann.
Genau so steht es im Regierungsentwurf, aber nichts davon, was passiert, wenn plötzlich das tägliche Leben unbezahlbar wird. Es wird sich zeigen, ob die Koalition das Gesetz im weiteren Verfahren auf die Höhe der Zeit bringen will oder es bei dessen Limitierung belässt: als reichlich verspätete Corona-Abhilfe, die voraussichtlich keiner mehr wird in Anspruch nehmen können. Aber noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Am 22. September will der Bundestagsbildungsausschuss einen Beschlussvorschlag zur konkreten Ausgestaltung des Mechanismus vorlegen.
Ausländische Studierende außen vor
Zumal nach jetzigem Stand auch nicht alle profitieren könnten. Ausgenommen sind ausländische Studierende, die zum Studieren nach Deutschland kommen. Zuletzt waren dies über 440.000 und gerade sie trafen die ökonomischen Folgen der Pandemie besonders hart. Das BMBF deutet nichts auf ein Umdenken hin. Zitat: „Eine Ausweitung auf weitere Personengruppen, also insbesondere Personen, die sich befristet allein zum Zweck des Studiums in Deutschland aufhalten, ist nicht vorgesehen.“
Auch in puncto 200-Euro-Zuschuss ist man beim BMBF mit sich im Reinen. Ob die Summe nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein sei und vielleicht bald schon weitere Hilfen nötig werden, hakte Studis Online nach. Nix da: Die Einmalzahlung für Studierende und Fachschülerinnen und -schüler sei als „schnelle Entlastung“ gedacht, so Wagemann und weiter. „Der Staat ist nicht in der Lage, alle sozialen Härten abzufedern.“
Wie das Geld überhaupt bei den Betroffenen landen soll und wann, steht weiter in den Sternen. Auch zu diesem Thema hatte Studis Online das BMBF mit detaillierten Fragen konfrontiert. Als Replik gab es fade Kost vom Phrasenschwein: „Das Bundesbildungsministerium arbeitet derzeit mit Hochdruck an der Umsetzung der beschlossenen Zahlung an Studierende.“ Dankeschön!
Von wegen „Hochdruck“
Das mit dem „Hochdruck“ kennt man ja: Auf den schon im Frühjahr beschlossenen Heizkostenzuschuss von 230 Euro beziehungsweise 300 Euro für BAföG-Empfänger und/oder Studierende mit steuerpflichtigem Job warten viele Betroffene noch heute. GEW-Vorstand Keller schwant nichts Gutes: Derzeit werde an den Hochschulen über Energielockdowns diskutiert und darüber, Hörsäle, Bibliotheken und Mensen geschlossen zu halten. „Kommt es so, werden Studierende demnächst hungernd und frierend in ihrer Bude sitzen.“ (rw)