Leben unterm LimitStudierende mit 40-Prozent-Armutsquote – vor der Inflationskrise
Als der Paritätische Wohlfahrtsverband vor einem halben Jahr enthüllte, dass Studierende in Deutschland zu über 30 Prozent in Armut leben, sorgte das für ein – nun ja – kurzes Aufhorchen. Schon schlimm irgendwie, aber auch schnell wieder vergessen. Dabei war die fragliche Studie bereits damals „veraltet“, bezog sich aufs Jahr 2019. Pandemie und Inflationskrise waren also noch gar nicht eingepreist.
Immerhin ein Stückchen näher am Hier und Jetzt sind die „neuesten“ Zahlen des Statistischen Bundesamts. Nach einer am Mittwoch anlässlich des Weltstudierendentags veröffentlichten Erhebung gelten hierzulande fast vier von zehn Hochschülern als „armutsgefährdet“. Was bedeutet: 37,9 Prozent der Studierenden verfügen über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung, was 2021 monatlich 1.251 Euro entsprach.
Solowohnen
Womit klar ist: Auch diese Daten hinken der Zeit hinterher. Über weite Strecken des Vorjahrs war von dem bevorstehenden Schock an den Energiemärkten nichts zu ahnen. Erst zum Jahresende zogen die Preise für Strom und Gas merklich an, aber so richtig auf drehten die Kosten mit Beginn des Ukraine-Kriegs und kennen seither kein Halten mehr. Das mitgedacht, dürfte sich die Lage für viele noch einmal deutlich verschärft haben.
Aber auch so sind die Kennziffern der Behörde aus Wiesbaden alarmierend genug. Richtig schwer haben es demnach jene, die alleine wohnen oder in einer WG zusammen mit Kommilitonen. Für sie betrug das „Armutsrisiko“ satte 76,1 Prozent. Gut drei von vier Betroffenen haben demnach erhebliche Probleme, sich materiell über Wasser zu halten. Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung waren im Vorjahr „nur“ 15,8 Prozent von Armut „bedroht“.
Wobei die Begrifflichkeiten die Situation noch beschönigen. Worte wie „armutsgefährdet“ oder von „Armut bedroht“ verschleiern die schlichte Tatsache, dass die fraglichen Menschen einfach arm sind. Natürlich muss das nicht für immer so sein und gerade Studierende haben in aller Regel gute Aussichten auf bessere Zeiten, sobald sie ins Berufsleben überwechseln.
Jobben total normal
Aber es ist genau dieses Argument, mit dem das Thema als „halb so wild“ abgetan wird. Studierende könnten ruhig mal ein paar Jahre darben, weil ihnen danach ja alle Türen offenstünden, heißt es gerne. Das ist zwar nicht ganz falsch, lenkt aber von massiven sozialpolitischen Versäumnissen ab.
So war etwa die Bundesausbildungsförderung (BAföG) ursprünglich dazu gedacht, den Anspruchsberechtigten ein Studium zu ermöglichen, ohne nebenher arbeiten zu müssen. Mit den etlichen „Kleckerreformen“ der vergangenen Jahrzehnte hat die Politik diesen Anspruch faktisch entsorgt und ist Jobben trotz BAföG heute total normal.
Vergessen wird dabei, dass Studieren damit viel strapaziöser wird und die Chancen für einen erfolgreichen Abschluss sinken. Schon in den Vorjahren brach fast jeder Dritte sein Studium vorzeitig ab und kein Statistiker kennt die aktuelle Quote, weil die amtlichen Zahlensammler der Gegenwart stets um mindestens ein Jahr hinterherhinken.
Es geht um die nackte Existenz
Zu wenig Geld?
Ein paar Möglichkeiten, wie/wo du noch etwas bekommen könntest findest du am Ende des Artikels!
Der Punkt ist: Angesichts der Teuerungswelle bei Energie, Wohnen und Lebensmitteln, deren Ende nicht absehbar ist, geht es nicht länger darum, dass der heute vielleicht arme Student morgen schon Karriere macht. Es geht um die nackte Existenz von Zehn- womöglich Hunderttausenden jungen Menschen, die gezwungen sein könnten, ihr Studium in der Not hinzuschmeißen oder gar nicht erst ein Studium aufnehmen können, weil sie es nicht finanzieren können.
Dazu ein paar Zahlen mehr: Schon 2021 lebten laut Statistischem Bundesamt nahezu zwei von fünf Studierenden (38,5 Prozent) in Haushalten, die nicht in der Lage waren, unerwartete größere Ausgaben aus eigenen finanziellen Mitteln zu bestreiten. Unter denen, die allein oder in Studi-WGs wohnten, traf dies auf 55,5 Prozent zu.
In puncto Wohnen lag der durchschnittliche Anteil der Miete und Nebenkosten am verfügbaren Haushaltseinkommen bei 31,6 Prozent im Durchschnitt aller Hochschüler, während die Wohnkostenbelastung der Gesamtbevölkerung knapp über 23 Prozent betrug. Im Fall von Studierenden mit eigener Bleibe oder in WGs ging im Mittel über die Hälfte (51,1 Prozent) des vorhandenen Geldes fürs Wohnen drauf.
Hängepartie bei „Soforthilfe“
Bei den mittlerweile horrend gestiegenen Energiepreisen werden die Unkosten spätestens nach der kommenden Nebenkostenabrechnung gewaltig zulegen und damit noch weniger Mittel zum Essen und Trinken parat sein, wofür ja ebenfalls deutlich tiefer in die Tasche gegriffen werden muss. Zumal auch die Mensapreise vielerorts bereits merklich angezogen haben.
Die Bundesregierung hat für die Sorgen und Nöte der Studierenden bisher nicht viel übrig. Den mit Abstand besten Schnitt machen mit einem doppelten Heizkostenzuschuss und der angekündigten Einmalzahlung von 200 Euro noch die BAföG-Empfänger, wobei lediglich noch elf Prozent aller Studierenden tatsächlich BAföG erhalten. Alle anderen vertröstet die Ampelkoalition mit besagtem 200-Euro-Zuschuss, auf den aber wohl noch lange zu warten ist.
Auf die drohende Hängepartie machten am heutigen Donnerstag die Juso-Hochschulgruppen aufmerksam. Dass die Auszahlung erst im nächsten Jahr und vermutlich mit einer Online- Beantragung, ähnlich wie bei der Überbrückungshilfe, erfolgen soll, stelle unnötige Hürden auf und werde „finanzielle Bedrängnis der Studierenden zuspitzen“, äußerte sich Bundesvorstandsmitglied Simone Mangold per Medienmitteilung.
Kein Fall für Notfallmechanismus
Vor zwei Wochen musste Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) einräumen, dass ihr Ministerium seit September keine geeignete Umsetzungslösung für die sogenannte „Soforthilfe“ gefunden hat. Abhilfe soll jetzt eine noch aufzubauende „zentrale Plattform“ schaffen und mit den ersten Überweisungen ist frühestens Anfang Januar zu rechnen. (Über den aktuellen Stand berichtet Studis Online hier.)
Der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) dauert das zu lange. „Damit die Studierenden über den Winter kommen“, müsse das Geld „sofort ausgezahlt und der Notfallmechanismus des BAföG aktiviert werden“, verlangte der Vizevorsitzende Andreas Keller am Mittwoch in einer Stellungnahme.
Das Instrument soll eigentlich bei außergewöhnlichen gesellschaftlichen Notlagen greifen und das BAföG vorübergehend für alle Studierenden mit deutschem Pass öffnen. Das Gesetz ist allerdings – unter dem Eindruck von Corona – so eng gefasst worden, dass es lediglich im Falle „erheblicher Nachfrageeinbrüche auf dem Arbeitsmarkt für ausbildungsbegleitende Erwerbstätigkeiten“ zur Anwendung kommt. Mondpreise für Strom, Gas, Heizung und Lebensmittel sowie obszön überteuerte Mieten taugen hingegen nicht als Auslöser.
Noch größere Not bei Internationalen
Vor dem Hintergrund der Meldung aus Wiesbaden plädierte Keller dafür, das BAföG schnellstens auf das steuerliche Existenzminimum von 1.200 Euro anzuheben und regelmäßig an die Steigerung der Lebenshaltungskosten anzupassen. „Die Bundesregierung muss diese dramatische Entwicklung stoppen“, bekräftigte der Gewerkschafter. Dazu brauche es auch einen zügigen Start und eine Ausweitung des von Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) angekündigten Förderprogramms für Wohnraum für Studierende und Auszubildende.
Matthias Anbuhl, Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks (DSW), erklärte am gleichen Tag: „Studierende stehen in diesem Wintersemester vor einer dramatischen sozialen Notlage. Sie kommen finanziell und psychisch auf dem Zahnfleisch aus der Corona-Pandemie – und wissen angesichts explodierende Preise oftmals nicht, wie sie nun Strom, Gas und Lebensmittel bezahlen sollen.“ Besondere Beachtung müsse den internationalen Studierenden zuteil werden, gab der Funktionär zu bedenken. Sie verfügten monatlich über 140 Euro weniger Einnahmen als ihre deutschen Kommilitonen.
An die Bundesregierung appelliert das DSW, bei den Direkthilfen nachzulegen, beim BAföG den Grundbetrag und die Wohnkostenpauschale „so rasch wie möglich“ zu erhöhen und einen „automatischen Inflationsausgleich“ zu installieren. „Das ist die beste Armutsprophylaxe“, so Anbuhl. Überdies seien die Bundesländer gefordert, die Studierendenwerke stärker zu unterstützen, damit diese die Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln nicht an die Studierenden weitergeben müssen.
Stark-Watzinger schweigt
„Kleine Einmalzahlungen“ lösten das systemische Problem nicht, erklärte Lone Grotheer vom „freien zusammenschluss von student*innenschaften“ (fzs). Auch sie rief in einer Pressemitteilung dazu auf, eine strukturelle Reform des BAföG „nicht auf die lange Bank“ zu schieben. Die „letzten Reförmchen“ reichten nicht aus, die prekäre Situation vieler Studierender langfristig zu verbessern, und erreichten zudem viel zu wenige Bedürftige.
Zum „Armutszeugnis“ aus Wiesbaden schweigt sich BMBF-Chefin Stark-Watzinger erwartungsgemäß aus. Keine Medienmitteilung, kein Wortbeitrag, kein Tweet – nichts. Dabei gibt es durchaus auch gute Ratschläge aus den eigenen Reihen. Zum Beispiel schlägt die Bundestagsabgeordnete Laura Kraft von der mitregierenden Grünen-Partei eine bundesweite Mensa-Preisbremse vor.
Ihr Plädoyer in einem Beitrag für den Berliner Tagesspiegel: „In jeder Hochschulmensa soll es jeden Tag ein Tagesgericht zum Preis von einem Euro geben, damit alle Studierenden satt werden können.“ Kostenpunkt: „Monatlich maximal 14 Millionen Euro“ und damit „eine Summe, die der Bund und 16 Bundesländer gemeinsam zu stemmen in der Lage sein sollten“. Zweifel erscheinen angebracht ... (rw)