Krise ohne EndeDSW fordert Energiehilfen, BAföG-Reform und Rettung des Semestertickets

So mancher Studierende in Rheinland-Pfalz muss sich vorkommen wie im falschen Film. Während die Corona-Krise gefühlt schon ein gutes Stück zurückliegt und die Gedanken an triste und einsame Stunden im Homeoffice verflogen sind, werden sie jetzt genau dorthin zurückgeschickt: in ihre beengte Bude, bei Laptoplehre und Dosenravioli.
Ewig grüßt das Murmeltier? Nicht ganz, denn etwas ist anders. Der Feind ist nicht länger ein Virus, sondern das teure Gas und der teure Strom. Um die Sparvorgaben der Mainzer Landesregierung bei den Energiekosten einzuhalten, setzen gleich mehrere Hochschulen den Präsenzbetrieb einmal mehr aus und stellen schon wieder auf Fernunterricht um – vorübergehend, heißt es.
Am weitesten geht die Hochschule Koblenz mit einer „digitalen Phase“ vom 4. Dezember bis 8. Januar, in der es ausnahmslos „reine Online-Vorlesungen“ geben wird. Aller Protest von Betroffenen half nichts. Die Seminarräume bleiben dicht und was das Rektorat beim Heizen spart, schlägt für die „Vertriebenen“ mit noch höheren Gasrechnungen zu Buche. Als ginge es ihnen nicht schon schlecht genug.
„Dramatische soziale Lage“
Ein bedrückendes Bild ihrer Lage zeichnete am Donnerstag der scheidende Präsident des Deutschen Studierendenwerks (DSW), Rolf-Dieter Postlep, bei der Jahrespressekonferenz seines Verbandes in Berlin. In diesem Wintersemester stünden viele Hochschüler vor „einer dramatischen sozialen Notlage“, beschied er. Sie kämen „finanziell und psychisch auf dem Zahnfleisch“ aus der Pandemie und wüssten „oftmals nicht, wie sie nun Gas, Strom und Lebensmittel bezahlen sollen“.
Der Termin stand unter dem Motto: „Studieren in multiplen Krisen: Was nottut.“ Tatsächlich leben über 2,9 Millionen Hochschüler in Deutschland seit bald drei Jahren im permanenten Ausnahmezustand. Mit Corona brachen großflächig Studentenjobs weg, was viele finanziell in Bedrängnis brachte. Fast nahtlos schloss sich der Ukraine-Krieg an und seither kennen die Preise für Energie und Lebensmittel kein Halten mehr. Das bedeutet noch mehr Einschränkungen oder noch mehr Jobben – und noch weniger Zeit fürs Studium.
Das studentische Budget sei „in aller Regel extrem auf Kante genäht“, bemerkte Potslep, „nun droht diese Naht zu reißen“. Trotzdem fand er lobende Worte für die diversen Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung: das Neun-Euro-Ticket, die beiden Heizkostenzuschüsse für Empfänger von Bundesausbildungsförderung (BAföG), die Energiepauschale für steuerpflichtig Erwerbstätige sowie die geplante Einmalzahlung von 200 Euro für sämtliche Studierende.
Bund-Länder-Zoff zur 200 Euro Energiepreispauschale für Studierende
Allerdings wird der Zuschuss noch länger auf sich warten lassen. Zunächst muss eine Internetplattform aufgebaut werden, über die das Geld beantragt werden kann. Schon bei den sogenannten Corona-Überbrückungshilfen zog sich der Prozess lange hin. Zu allem Überfluss ist jetzt auch noch ein offener Streit zwischen Bund und Ländern über die Frage der Umsetzung ausgebrochen. In einem Brief an Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) kritisieren die Kultusminister der Länder einen „gut gemeinten, aber nicht hinreichend vorbereiteten“ Gesetzentwurf und fordern, diesen schnell „gesetzgeberisch nachzubessern“.
Unter anderem mahnen die Länder einheitliche datenschutzrechtliche Regeln vom Bund für die Daten von Studierenden und Fachschülern an, die sie an die gemeinsame Plattform übermitteln müssten. Des Weiteren vermissen sie Regeln für einen länderübergreifenden Datenabgleich, damit mehrfache Beantragungen ausgeschlossen werden. Andernfalls müssten sie dies alles mit ihren 16 Datenschutzbeauftragten und Landesparlamenten einzeln regeln, was noch mehr Zeit in Anspruch nehmen würde.
Als Starttermin der Auszahlungen war eigentlich der 1. Januar avisiert, was angesichts des neuen Ärgers und bei einem Vorbereitungsstand nahe dem Nullpunkt vollends utopisch erscheint. „Wir bitten dringend im Interesse der Studierenden, der Fachschülerinnen und -schüler sowie unserer politischen Glaubwürdigkeit darum, eine möglichst schnelle Auszahlung der 200 Euro zu ermöglichen“, appellieren die Landesminister an die Ampel. Und auch das DSW mahnte eine rasche Überweisung der 200 Euro an. Gerade die mehr als 60 Prozent der Studierenden auf dem freien Wohnungsmarkt brauchten das Geld „so schnell es geht“.
Wohnungsbauoffensive gefordert
Überhaupt sieht der Verband beim studentischen Wohnraum „ein riesiges strukturelles Defizit des deutschen Hochschulsystems“. So sei die Zahl der Studienplätze seit 2007 um 52 Prozent gestiegen, die der staatlich geförderten Wohnheimplätze um bloß sechs Prozent, wie der DSW-Präsident vorrechnete. Bund und Ländern bot er deshalb den kurzfristigen Bau von 25.000 neuen Plätzen an, mittelfristig von weiteren 64.000.
Dafür brauche es allerdings staatliche Zuschüsse von 2,6 Milliarden Euro in den nächsten drei Jahren. Die andere Hälfte werde man aus Eigenmitteln stemmen. Erfreulich ist aus Sicht des DSW der angekündigte Einstieg des Bundes in die Wohnheimförderung. Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) will dazu ab 2023 das Programm „Junges Wohnen“ auflegen, um daraus bezahlbaren Wohnraum für Studenten und Auszubildende zu finanzieren.
Ein Investitions- und Sanierungsstau besteht nach Verbandsangaben ebenso bei der Hochschulgastronomie, hier beliefen sich die Erforderlichkeiten bis 2026 auf 1,6 Milliarden Euro. Noch mehr Mittel brauche es, um der anhaltenden Teuerung nicht mit weiter steigenden Mensa- und Wohnheimpreisen zu begegnen. „Das tun zu müssen, geht gegen die ‚DNA‘ der Studierendenwerke“, betonte Postlep.
Drei Körbe beim BAföG
Nötig seien überdies weitere zehn Millionen Euro in den kommenden zwei Jahren zur Stärkung der psychosozialen Beratung der Studierendenwerke. Wie der Verbandsfunktionär schilderte, hat die Pandemie tiefe Spuren in der körperlich-seelischen Verfassung von Studierenden hinterlassen. Es gehe um soziale Isolation und Vereinsamung, die Infragestellung des Studiums, um depressive Verstimmungen, Hoffnungslosigkeit bis hin zu suizidalen Gedanken. Die psychosozialen Beratungsstellen würden „förmlich überrannt“, vielerorts habe sich die Wartezeit „vervielfacht“.
Außerdem verlangte Postlep eine „grundlegende, strukturelle BAföG-Reform“ mit einem Regelsatz von 603 Euro statt der heute bewilligten 452 Euro, einer jährlichen Anpassung an die Preis- und Lohnentwicklung und einer „konsequenten Digitalisierung aller BAföG-Prozessschritte, einschließlich E-Akte und E-Bescheid“. Erforderlich sei zudem eine Erhöhung der BAföG-Wohnpauschale von aktuell 360 Euro auf 410 Euro.
Neu ist der Ansatz einer Ausbildungsförderung nach dem „Drei-Körbe-Modell“, wie es auf der DSW-Mitgliederversammlung am 7. Dezember beschlossen wurde, nicht. Das bereits in den 1990er andiskutierte Modell sieht als ersten Korb eine „elternunabhängige Sockelförderung für alle volljährigen Auszubildenden“ vor. Der zweite Korb beinhaltet ein „vereinfachtes und stärkeres BAföG“ und der dritte ein „zinsloses Darlehen“. Dazu kommen eine Anhebung der Förderungshöchstdauer um mindestens zwei weitere Semester, die Streichung des BAföG-Leistungsnachweises nach vier Semestern und die „Abkoppelung der Förderungshöchstdauer an die fiktive Regelstudienzeit“.
Semesterticket in Gefahr
Was die angekündigten Energiehilfen der Bundesregierung für die Hochschulen betrifft, rät das DSW dazu, als Bemessungsgrundlage für die Gas- und Strompreise den Verbrauch von 2019 heranzuziehen und nicht wie geplant des Jahres 2021. Damals waren die rund 950 hochschulgastronomischen Einrichtungen der Studierendenwerke – Mensen, Cafeterien, Kaffeebars – noch monatelang wegen der Pandemie geschlossen.
Vorbildhaft sei das Land Niedersachsen, dessen neu gewählte Regierung seine Studierendenwerke in den Jahren 2022 und 2023 mit 30 Millionen Euro Krisenzuschuss zusätzlich fördert. Daran sollten sich die anderen Bundesländer ein Beispiel nehmen, bekräftigte Postlep, der zum 1. Januar 2023 von Beate Schücking, ehemalige Rektorin der Universität Leipzig, im Amt des DSW-Präsidenten abgelöst wird.
Zum Abschied gab Postlep den Regierenden in Bund und Ländern zwei weitere Ratschläge auf den Weg: die Abschaffung des Rundfunkgebührenbeitrags für Studierende und eine Preisobergrenze für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Mit Blick auf das geplante „Deutschland-Ticket“ fordert der Verband ein Mobilitätsangebot für Studierende, das „deutlich unter den Kosten des 49-Euro-Ticket liegen muss“. Andernfalls sei der Fortbestand der bisherigen Semestertickets „ernstlich gefährdet“.
Uni Bochum spart Personal
Früher oder später könnte das auch für den Arbeitsplatz von Hochschulbeschäftigten gelten – vielleicht sogar solche in Forschung und Lehre. Den Anfang dazu hat jedenfalls die Ruhr-Universität Bochum in Nordrhein-Westfalen gemacht: Die verhängte kurzerhand einen sechsmonatigen Einstellungsstopp, um ihre Heizungsrechnung begleichen zu können. Der Fall „darf nicht Schule machen“, warnte am Donnerstag die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die Politik müsse einen „Rettungsschirm über den Hochschulen“ aufspannen, mit einem Sonderprogramm, sie „über Dezemberhilfe hinaus bei den steigenden Gas- und Strompreisen entlastet“.