Raus auf die Straße!Mogelpackung statt BAföG-Strukturreform
Dieser Termin sollte für jeden Studierenden ein Muss ein. Am 23. September steigen in bundesweit knapp 30 Städten Proteste gegen die deutsche Bildungsmisere – unter anderem in Kiel, Hamburg, Bremen, Köln, Leipzig, Erfurt, Hannover, Mainz, Saarbrücken, Freiburg und München. Initiator ist das Bündnis „Bildungswende Jetzt!“, dem sich bereits über 170 Organisationen angeschlossen haben, darunter Schüler- und Elternverbände, Gewerkschafter, Sozialarbeiter und Erzieherinnen. Sie alle eint die Überzeugung: So wie jetzt kann, darf es nicht weitergehen.
Am Donnerstag haben Bündnisvertreter vor Pressevertretern in Berlin ihre Standpunkte klar gemacht. „Die Bundesregierung muss jetzt ein Sondervermögen Bildung von mindestens 100 Milliarden Euro auf den Weg bringen und endlich aufhören, bei der Bildung jedes Jahr viele Milliarden weniger auszugeben, als sie selbst versprochen hat“, erklärte Philipp Dehne von der Kampagne „Schule muss anders“.
Dazu kommen drei weitere Forderungen, die die Aktiven in einer von bald 75.000 Menschen unterstützten Onlinepetition an den Bundeskanzler, die Bundesminister, Bundestagsabgeordnete und die Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) richten: „Schule und Kitas zukunftsfähig und inklusiv gestalten“, eine „Ausbildungsoffensive“ für Lehrer und Erzieher sowie die Ausrichtung eines „Bildungsgipfels“ unter Beteiligung der Zivilgesellschaft.
Von wegen „Bildungsrepublik“
Dieser müsste allerdings mehr bewirken als das gleichnamige Format in Dresden im Jahr 2008, als die damalige Bundeskanzlerin die „Bildungsrepublik“ ausrief. Seinerzeit versprach Angela Merkel (CDU), die öffentlichen und privaten Aufwendungen für Bildung und Forschung auf zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu steigern.
Tatsächlich wurde die Messlatte in der Folge immer wieder gerissen, in den Jahren seit 2015 um im Schnitt 20 Milliarden Euro, wie das Bündnis in einem Hintergrundpapier vorrechnet. Wollte Deutschland mit Norwegen, dem Überflieger unter den Industriestaaten, mithalten, müssten jährlich 120 Milliarden Euro mehr aufgebracht werden. Um den Stand Dänemarks oder Schwedens zu erreichen, wären 50 beziehungsweise 70 Milliarden Euro extra nötig.
Nach mindestens zwei Jahrzehnten chronischer Unterfinanzierung nagt der Mangel in allen Bereichen. Bis 2035 werden absehbar 160.000 Lehrkräfte in den Schulen fehlen, in den Kitas bräuchte es 384.000 Betreuungsplätze und dafür 300.000 Erzieherinnen und Erzieher mehr. Ein Viertel aller Schüler kann nach Ende der vierten Klasse nicht richtig lesen und jedes Jahr bleiben 50.000 junge Menschen ohne Schulabschluss.
Bildungsressort kürzt am meisten
Den Sanierungsstau bei den Schulen beziffert die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) auf 45 Milliarden Euro. In den Ausbau und die Ertüchtigung der Kitas müssten mindestens zehn Milliarden Euro fließen. Um die Hochschulen baulich in Schuss zu bringen, sind laut Wissenschaftsrat sogar 60 Milliarden Euro erforderlich.
Aber politisch tut sich praktisch nichts. Im Gegenteil: Am Donnerstag beriet der Bundestag im Rahmen der Haushaltsdebatte den Etatansatz des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) für 2024. Mit 20,3 Milliarden Euro liegt dieser rund 1,2 Milliarden Euro unter dem Ausgabevolumen des laufenden Jahres und 50 Milliarden unter dem, was die Regierung allein für das deutsche Militär locker macht. Kein anderes Ressorts muss ein derart großes „Sparopfer“ erbringen, obwohl Bildung in sämtlichen Sonntagsreden als Deutschlands wichtigste Ressource und Zukunftsinvestition Nr. 1 gehandelt wird.
Der Löwenanteil der Kürzungen betrifft die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG), die um satte 25 Prozent zurückgefahren werden sollen. Beim Schüler-BAföG geht es um ein Minus von 212 Millionen Euro, bei Studierenden von 440 Millionen Euro, fürs Aufstiegs-BAföG will das BMBF 30 Millionen weniger zur Verfügung stellen.
Ablenkungsmanöver
In der Parlamentsdebatte am Donnerstagabend inszenierte sich Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) einmal mehr als wackere BAföG-Hüterin. „Nein, wir kürzen nicht“, sagte sie, „wer einen Anspruch hat, bekommt das Geld ausgezahlt, je mehr desto besser, dahinter stehe ich mit meinem Wort“. Eigentlich hatte niemand vom Fach je etwas anderes behauptet. Natürlich werden die Zuwendungen auch künftig auf dem Niveau der gültigen BAföG-Novelle vom Herbst 2022 bewilligt – alles andere wäre Rechtsbruch.
Stark-Watzingers Bekenntnis dient lediglich als Ablenkungsmanöver davon, dass ihre jüngste Reform praktisch verpufft ist und sie ihre Pläne für eine „große Strukturreform“ klammheimlich begraben hat. Denn eigentlich soll eine solche gemäß früherer Verlautbarungen noch in der laufenden Legislaturperiode aufgelegt werden.
Für 2024 ist das faktisch ausgeschlossen. Wie wollte man das bezahlen, bei einem um ein Viertel gekappten Mittelansatz? Und dass es 2025, im direkten Vorfeld der nächsten Bundestagswahl noch klappt, erscheint auch sehr unwahrscheinlich. Lediglich die Anpassungen im Zusammenhang mit der Kindergrundsicherung müssten dann wohl kommen.
Reform „mausetot“
Für den CDU-Abgeordneten Thomas Jarzombek besteht kein Zweifel mehr: „Die Reform, die Sie versprochen haben, ist mausetot“, bemerkte er im Plenum. Und Petra Sitte von der Fraktion Die Linke erinnerte in ihrer Rede daran, dass zuletzt Bundesfinanzminister Christian Lindner nach der koalitionsinternen Einigung auf eine Kindergrundsicherung versichert hatte, dabei handele es sich „mit Blick auf die nächsten Jahre um die letzte größere Sozialreform“.
Dabei ist auch dieses Vorhaben auf Lindners maßgebliches Betreiben hin erheblich zusammengeschrumpft. Die grüne Familienministerin Lisa Paus wollte dafür ursprünglich zwölf Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich investieren. Nun soll sie sich ab 2025 mit zunächst 2,4 Milliarden Euro begnügen.
Teil der Pläne ist die direkte Auszahlung des künftigen sogenannten Kindergarantiebetrags (heute noch Kindergeld) an Auszubildende und Studierende. Vor Kurzem erst hatte sich Stark-Watzinger auf X (vormals Twitter) damit gerühmt, diese Maßnahme sei im Wesentlichen dem Bemühen ihres Ministeriums zu verdanken. Jedenfalls reklamierte sie, „mit der Reform wird nun auch das BAföG elternunabhängiger“.
Ampel „tut nichts“
Tatsächlich war dieser Schritt seit Langem genau so fest eingeplant. Die Selbstbeweihräucherung ist daher wohl bloß der billige Versuch der Ministerin, ihr Scheitern in puncto Strukturreform zu kaschieren. Bei ihrer Rede verlor sie zu dieser kein Wort, wie schon seit etlichen Monaten. Stattdessen bekräftigte sie noch einmal: „Nach der Reform jetzt der Einstieg in das elternunabhängigere BAföG.“
Auf die Mogelpackung fällt man beim Deutschen Studierendenwerk (DSW) nicht herein. „Die fatale Botschaft dieses BMBF-Haushaltsentwurfs beim BAföG ist: Wir tun 2024 nichts“, äußerte sich Verbandsvorstandchef Matthias Anbuhl am Donnerstag und weiter: „Keine Strukturreform, keine Anpassung an die Inflation, keine Digitalisierung, kein Bürokratieabbau. Versprochen hat die Koalition das Gegenteil. Eine bittere Nachricht.“
Immerhin pochten die Vertreter der mitregierenden SPD und Grünen in ihren Beiträgen auf ein Festhalten an den Plänen für eine Strukturreform, mit der die Bedarfssätze erhöht, die Leistungen an die Lebenswirklichkeit angepasst und ein Automatismus für künftige BAföG-Runden installiert werden solle.
SPD-Konzept mit Stärken
Durchaus vielversprechend erscheint ein Konzept der SPD, vorgelegt Ende Juni: Demnach sollen der Grundbetrag analog zum neuen Bürgergeld um 50 Euro erhöht, die Leistungen „regelmäßig an steigende Lebenshaltungskosten angeglichen“, die Förderhöchstdauer verlängert und der Kreditanteil der Auszahlungen zugunsten des Zuschussanteils verringert werden.
Das trüge der verheerenden Entwicklung Rechnung, dass immer mehr eigentlich Anspruchsberechtigte das BAföG aufgrund von Verschuldungsängsten meiden. Zuletzt beanspruchten nur noch elf Prozent aller Studierenden die Sozialleistung – bei sinkender Tendenz. Eine Bedarfsprognose im Auftrag des BMBF sagt für die kommenden Jahre weitere Einbrüche bei den Gefördertenzahlen voraus.
Auf eben dieser Grundlage wurde der Mitteleinsatz für 2024 drastisch nach unten korrigiert. Solange der Trend anhält, führte eine Erhöhung der Geldmenge denn auch ins Leere, weil absehbar nicht mehr Menschen ins System drängen, die es abrufen würden. Auch deshalb sind in den anstehenden Haushaltsberatungen keine nennenswerten Korrekturen zu erwarten. Einzig in dem Fall, dass sich die Koalition doch noch auf eine rasche Strukturreform in 2024 einigt, bräuchte es kurzfristig mehr Geld – und zwar drastisch mehr. Für dieses Szenario spricht nach Lage der Dinge allerdings leider nichts.
Studierendenverband macht mobil
Das ist nur einer einer von vielen Gründen, warum es auch die Studierenden dringend auf die Straße treiben müsste. Mehr als ein Drittel von ihnen lebt in Armut, dazu kommen häufig widrige Studienbedingungen mit unzureichender personeller Betreuung und schlechter technischer Ausstattung, überteuerte Mieten und horrend gestiegene Preise für Lebensmittel und Energie.
Gezielt und flächendeckend mobilisiert wird an den Hochschulen bisher jedoch nicht. Der „freie zusammenschluss von student*innenschaften“ (fzs) ist nicht Teil von „Bildungswende Jetzt!“, teile aber die Anliegen des Bündnisses, wie der politische Geschäftsführer Sebastian Zachrau am Donnerstag gegenüber Studis Online sagte. Man werde die Demonstrationen demnächst in den sozialen Medien bewerben, kündigte er an.
Zur Einordnung: Deutschland zählt 2,9 Millionen Studierende, wovon schon 2022 knapp 38 Prozent als armutsgefährdet galten, also weit über eine Million Menschen. Sie allein könnten schon einiges bewegen. Was wäre erst möglich, wenn sie sich mit den zahllosen Leidtragenden der verkorksten „Bildungsrepublik“ zusammenschlössen? Fast schon eine rhetorische Frage. (rw)