„Das ist Digitalisierung ad absurdum!“BAföG bleibt viel Papierkram
Studis Online: Das Studierendenwerk München Oberbayern setzt in puncto BAföG-Beantragung auf Transparenz: Allwöchentlich veröffentlicht es im Internet den aktuellen Bearbeitungsstand. So erfuhr man am Montag vor einer Woche, dass für alle Erstanträge, die bis 5. Juli vollständig und korrekt eingereicht worden waren, ein Bescheid ergangen ist. Wissen Sie von noch anderen BAföG-Ämtern, die so verfahren?
Matthias Anbuhl: Nein, das sehen wir auch das erste Mal. Das dürften vor allem Erstanträge sein, von Studienanfänger*innen, die bald zum Wintersemester 2023/2024 anfangen.
Nun hört sich das mit dem 5. Juli ja noch irgendwie ermutigend an, mehr noch gilt das für den Bearbeitungsstand bei den Weiterförderungsanträgen, den das Münchner Studierendenwerk mit 26. Juli angibt. Allerdings teilt es auf Instagram auch mit, dass lediglich zehn Prozent der Anträge vollständig sind und es dadurch zu Verzögerungen kommt. Was macht die Sache in solchen Fällen so kompliziert?
Das BAföG ist sehr komplex und oft sind die Unterlagen zum Antrag nicht vollständig. Dann müssen die BAföG-Ämter bei den Studierenden nachfragen und dann haben wir diese Verzögerungen.
Im Fall München Oberbayern taucht hier das Datum 16. März auf. Das hieße also sechs Monate Verzug ...
Das Studierendenwerk München Oberbayern sagt uns, der Hauptgrund für die lange Bearbeitungsdauer sei ein anhaltender Personalmangel. Hinzu komme, dass die Antragszahlen seit August 2023 kontinuierlich steigen. Derzeit habe man 20 Prozent mehr Anträge. Und auch die online eingereichten Anträge müssten ausgedruckt werden.
Sind solche Hängepartien der Normalfall oder ist es vielleicht sogar so, dass es, verglichen mit den Vorjahren, noch einmal längere Wartezeiten gibt?
Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Mir ist wichtig: Die Studierendenwerke wollen, dass die Studierenden ihr BAföG so rasch wie möglich bekommen.
Wie viele Anträge hat eine Sachbearbeiterin jährlich abzuarbeiten und wie hat sich der Workload im Laufe der Jahre verändert?
Unser Interviewpartner Matthias Anbuhl, Jahrgang 1970, ist Vorstandsvorsitzender des Deutschen Studierendenwerks (DSW) und bildet in dieser Funktion den Vorstand des Verbandes, in dem die 57 Studenten- und Studierendenwerke in Deutschland zusammengeschlossen sind. Er übernahm das Amt am 1. Oktober 2021, nachdem er zuvor über zehn Jahre lang die Abteilung Bildungspolitik und Bildungsarbeit beim Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) geleitet hatte.
Wir schätzen, dass eine Sachbearbeiterin im Durchschnitt 650 Fälle im Jahr bearbeitet. Zum reinen Antragsbearbeiten kommen aber noch viele weitere zeitintensive Abklärungen hinzu. Oder sie muss eine Vorausleistung prüfen, weil die Eltern ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkommen. Oder eine bestehende Förderung aktualisieren. Was ich sagen will: Die schiere Zahl von Fällen allein sagt noch nichts darüber aus, wie viel Arbeit eine Sachbearbeiterin hat. Auch die Beratung der Studierenden ist wichtig.
Gleichzeitig trifft der Fachkräftemangel auch die BAföG-Ämter. Es wird immer schwerer, Fachpersonal mit der nötigen juristischen und verwaltungstechnischen Ausbildung zu finden. Die Konkurrenz durch die Kommunen ist groß, die können auch mehr bezahlen. Und dann ist da die leider nur teilweise umgesetzte Digitalisierung …
Eigentlich sollte auf den BAföG-Ämtern ja schon längst die schöne, neue digitale Welt Einzug gehalten haben. Beim Studierendenwerk München Oberbayern liest sich das aber so: „Unsere Mitarbeiter/-innen müssen momentan trotz BAföG-Digital-Portal und BAföG-App jeden Antrag zur Bearbeitung ausdrucken.“ Warum ist das so?
Was das Studierendenwerk München Oberbayern schreibt, stimmt leider für alle BAföG-Ämter: Weil nur die Antragstellung digitalisiert wurde, alle weiteren Schritte aber nicht, müssen tatsächlich die online eingereichten Anträge ausgedruckt werden. Dann werden sie abgeheftet, eine Papier-Akte wird angelegt. Das ist Digitalisierung ad absurdum! Und eine enorme Belastung für alle Mitarbeitenden.
Heißt das, es gibt bisher bestenfalls eine halbe Digitalisierung – die in puncto Antragstellung –, während die digitale Verwaltung auf dem Amt immer noch im Papierzeitalter festhängt?
Ich würde es noch nicht einmal eine halbe Digitalisierung nennen. Wir haben jetzt zwar den digitalen Antrag, aber es gibt keinen digitalen Bescheid und keine digitale Akte. Auch kein verschlüsseltes Online-Portal, über das die BAföG-Ämter mit den Studierenden kommunizieren könnten. Sie müssen stattdessen Briefe schreiben.
In der Presse war im Juni über die Stadt Halle in Sachsen-Anhalt zu lesen, dass das örtliche BAföG-Amt wegen der ganzen Druckerei extra eine Hilfskraft einstellen musste. Kommt Ihnen da Franz Kafka in den Sinn?
Das wäre schon Stoff für eine Satire, aber mir ist nicht nach Lachen zumute. Denn die Leidtragenden sind die Studierenden und die Beschäftigten in den BAföG-Ämtern. Ich bin immer noch fassungslos: Da soll ein Bundesgesetz für die digital affinste Gruppe von Menschen, die wir haben, digitalisiert werden – und man bleibt nach dem ersten Schritt stehen. Auch der Bundesrechnungshof kritisiert, dass das Online-Antragsportal nur die Antragsformulare abbildet, alle weiteren Schritte aber nicht.
Vor bald drei Jahren war „BAföG-Digital“ in den Pilotbetrieb gegangen und ihr Amtsvorgänger Achim Meyer auf der Heyde hatte sich im Interview mit Studis Online vorsichtig optimistisch gezeigt, dass sich das Verfahren damit vereinfachen und beschleunigen könnte. Was macht die Umstellung so verdammt beschwerlich?
Ich glaube, es fehlt an einem gemeinsamen politischen Ziel: Will ich beim BAföG den gesamten Prozess sinnvoll digitalisieren? Oder greife ich mir einen Teil heraus und kümmere mich irgendwann um den Rest? Wir haben immer gefordert: Macht beim BAföG vor der Digitalisierung zuerst eine Verwaltungsvereinfachung, entschlackt es. Dann digitalisiert es, medienbruchfrei, konsequent und bundesweit einheitlich. Von der Antragstellung über den Bescheid bis zur Akte. Digitalisierung ist doch kein Selbstzweck. Sie soll die Arbeit beim BAföG erleichtern und beschleunigen, damit die Studierenden rascher ihr Geld bekommen.
Auch Ihren Kollegen in München fehlt die „Einführung einer echten e-Akte“. Was verspricht die Technik konkret an Verbesserungen?
Eine BAföG-e-Akte macht nur Sinn, wenn sie Teil eines bundesweit einheitlichen Prozesses ist. Wenn eine Studentin mit BAföG heute an eine Hochschule in einem anderen Bundesland wechselt, dann wird ihre Papier-BAföG-Akte hingefahren. Im Moment arbeiten die Sachbearbeiterinnen mit zwei Bildschirmen. Auf dem einen ist ein Sammelsurium von pdf-Dateien, auf dem zweiten läuft die BAföG-Fachanwendung. Und das im Jahr 2023.
In welchen Bundesländern ist die „e-Akte“ bereits installiert und mit welchen Erfahrungen?
In keinem. Das Land Sachsen-Anhalt ist federführend für die Einführung der BAföG-e-Akte. Es gibt öffentliche Ankündigungen, dass im kommenden Jahr das BAföG-Verfahren komplett digitalisiert sein soll. Ich bin da skeptisch. Mir scheint, in den Bundesländern wird stattdessen an Inselösungen gebastelt. Das kann nicht sein: Die BAföG-e-Akte darf in Konstanz nicht anders sein als in Kiel, in Düsseldorf nicht anders als in Dresden.
Was denken Sie, wie lange es noch dauern könnte, bis die Technik überall steht und reibungslos läuft?
Das ist schwer zu sagen. Bund und Länder müssen sich nun endlich auf das Ziel verpflichten, den gesamten BAföG-Prozess zu digitalisieren. Derzeit zeigen die mit dem Finger aufeinander. Wir warten auf einen verbindlichen Zeitplan.
Man stelle sich vor, die jüngste BAföG-Novelle vom Herbst 2022 hätte tatsächlich die verheißene Trendumkehr bei den Gefördertenzahlen gebracht. Wie hätten die Ämter das bewältigen sollen? Sollten Sie der Regierung für die gescheiterte Reform nicht dankbar sein?
Klares nein. Lieber Online-Anträge ausdrucken und Überstunden fahren, als zusehen zu müssen, wie das BAföG an Bedeutung verliert. Die Ampel ist beim BAföG relativ stark gestartet, zum Wintersemester 2022/2023, als die Elternfreibeträge um 20,75 Prozent angehoben wurden. Ich dachte damals, die Koalition meint es ernst mit ihren BAföG-Versprechen. Nun drohen die alle zu implodieren. Die Botschaft der für 2024 geplanten Haushaltskürzungen beim BAföG ist: Wir tun nichts. Keine Strukturreform, keine Anpassung an die Inflation, keine Digitalisierung, kein Bürokratieabbau. Versprochen hat die Koalition das Gegenteil. Eine bittere Nachricht.
Sie sagen es: Die von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) versprochene BAföG-Strukturreform wurde mit dem vorgelegten Kürzungshaushalt 2024 praktisch begraben. Bliebe noch das Jahr 2025, in dem dann im Herbst neu gewählt wird. Haben Sie Hoffnung, dass die Ministerin wenigstens bis Ablauf der Legislaturperiode liefert?
Ich baue sogar darauf, dass die Regierung doch noch 2024 liefert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass gerade die jüngeren Abgeordneten der anderen Regierungsparteien nicht noch gegensteuern. Ich hoffe wirklich, das Parlament greift beherzt ein. Es muss den falschen Kurs des Bundesministeriums für Bildung und Forschung korrigieren. Das BAföG muss dringend gestärkt werden, nicht geschwächt
Aber dann nur im Verbund mit einer echten Digitalisierung ...
Ich würde das eine nicht zwingend mit dem anderen verknüpfen. Mir wäre es auch recht, es kommt sehr bald eine weitere, kräftige Erhöhung der BAföG-Bedarfssätze und -Elternfreibeträge, auch die versprochene Strukturreform – und dann etwas später die konsequente Digitalisierung. Es geht zuerst um die Studierenden, um ein stärkeres BAföG. (rw)