In schlechter VerfassungBAföG verstößt gegen Grundgesetz!?
Unter Juristen setzt sich eine Tendenz durch: Die Bemessung der Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) verstößt augenscheinlich gegen das Grundgesetz. Mit dem Berliner Verwaltungsgericht (VG) hat dies nun binnen drei Jahren ein zweites hochrangiges Gericht entschieden. Der Beschluss erging Anfang Juni, wurde aber erst am Dienstag veröffentlicht. Die begleitende Pressemitteilung ist überschrieben mit: „BAföG für Studierende darf nicht geringer sein als Bürgergeld.“
Das ist mal eine Ansage. Aber keine, auf die die Politik unmittelbar reagieren müsste. Das Gericht ist nämlich „nicht befugt, die Verfassungswidrigkeit eines Parlamentsgesetzes selbst festzustellen“. Das obliegt dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe, wohin die 18. VG-Kammer die Streitsache verwiesen hat. Wann dazu ein Urteil ergeht, ist jedoch offen. Die Mühlen der Justiz mahlen bekanntlich langsam.
Weckruf für die Ampel
Tatsächlich ist vor dem höchsten deutschen Gericht ein ganz ähnlich gelagertes Verfahren schon seit bald 38 Monaten anhängig. Den entsprechenden Vorlagebeschluss hatte im Mai 2021 sogar das Bundesverwaltungsgericht (BVervG) mit Sitz in Leipzig gefasst. Bei dem Fall ging es um die BAföG-Bezüge im Studienjahr 2014, deren Festlegung nach Überzeugung der Richter „mit dem verfassungsrechtlichen Teilhaberecht auf gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Ausbildungsangeboten nicht vereinbar“ gewesen sei. Aber auch sie befanden: Das letzte Wort hat Karlsruhe.
Beim „freien zusammenschluss von student*innenschaften“ (fzs) ist man wegen der Hängepartie genervt. „Es ist unglaublich, dass zwei verschiedene Gerichte in unterschiedlichen Fällen Verfassungswidrigkeit erkennen, ein Handeln auf Bundesebene jedoch ausbleibt“, äußerte sich Rahel Schüssler, fzs-Referentin für BAföG und Wohnen in einer Medienmitteilung. Die Entscheidung aus Berlin „kurz nach der vergeigten 29. BAföG-Novelle sollte ein Weckruf“ für das Bundesbildungsministerium (BMBF) sein, „dieses scheint jedoch andere Baustellen zu haben“.
BAföG-Bescheid zu niedrig? Widerspruch könnte lohnen
Falls das Bundesverfassungsgericht den im Artikel beschriebenen Klagen stattgibt und die BAföG-Sätze erhöht werden müssen, gilt dies nur für die Zukunft. Für dich selbst bedeutet dies, dass du keine direkte Erhöhung deiner aktuellen BAföG-Leistungen erwarten kannst.
Aber: Du könntest trotzdem Geld vom Staat zurückbekommen! Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) rät deshalb allen Studierenden, die mit ihrem BAföG-Bescheid unzufrieden sind, Widerspruch einzulegen. Verweise dabei auf die laufenden Gerichtsverfahren. So besteht zumindest eine kleine Chance, dass du von einem positiven Urteil profitierst und Nachzahlungen erhältst.
19 Euro zu wenig
Vor einem Monat hatte der Bundestag die zweite geldwerte BAföG-Reform der Bundesregierung in der laufenden Legislaturperiode beschlossen, (daneben wurde mit der 28. Novelle ein bislang wirkungsloser „Notfallmechanismus“ installiert). Trotz spät erfolgter Nachbesserungen bleiben die Zuwächse bei den Leistungen abermals weit hinter den Erfordernissen zurück. Bei einem Plus von fünf Prozent bei den Bedarfssätzen wird der Abstand zur Grundsicherung für Arbeitssuchende ab August bei 88 Euro (475 Euro/563 Euro) liegen. Dabei definiert die Ampel das sogenannte Bürgergeld als soziokulturelles Existenzminimum.
Das Verwaltungsgericht Berlin stufte rückblickend bereits eine Lücke von 19 Euro als nicht mehr rechtens ein. In dem verhandelten Fall ging es um die Klage einer Medizinstudentin der Charité, die die Bedarfssätze „in verfassungswidriger Weise“ als zu niedrig bemessen erachtet. Der Fall bezieht sich auf den Zeitraum zwischen Oktober 2021 bis September 2022. Damals belief sich der Hartz-IV-Regelsatz auf 446 Euro und der BAföG-Grundbedarf auf 427 Euro.
Bürgergeld enteilt
Der Gesetzgeber habe „mit der konkreten Festlegung der für 2021 geltenden Bedarfssätze für Studierende – sowohl mit dem Grundbedarf als auch mit dem Unterkunftsbedarf – die Gewährleistung eines ausbildungsbezogenen Existenzminimums verfehlt“, erklärte das VG. Für die Gegenwart sollte das umso mehr gelten. Inzwischen ist das auf Hartz IV folgende Bürgergeld dem BAföG noch viel weiter enteilt. Aktuell, also noch vor Inkrafttreten der Reform, beträgt die Differenz satte 111 Euro.
In puncto Wohnen sieht es nicht besser aus. Zwar soll der BAföG-Mietzuschuss für außerhalb des Elternhauses lebende Studierende demnächst von 360 Euro auf auf 380 Euro steigen. Aber auch das deckt die faktischen Kosten in den seltensten Fällen. Die Verwaltungsrichter hatten die Lage im Sommersemester 2021 zu prüfen, als die Wohnpauschale bei 325 Euro lag. Auch das, so ihre Einschätzung, wäre „evident zu niedrig gewesen, weil seinerzeit „bereits 53 Prozent der Studierenden monatliche Mietausgaben von 351 Euro aufwärts gehabt hätten, dabei knapp 20 Prozent zwischen 400 Euro und 500 Euro sowie weitere rund 20 Prozent mehr als 500 Euro“.
Flexibler Wohnzuschlag
Kritiker fordern schon sehr lange, den Mietzuschlag an den Bedingungen der örtlichen Wohnungsmärkte auszurichten. Das VG liefert dafür eine Steilvorlage. „Die Pauschalierungsbefugnis des Gesetzgebers finde bei der Gewährleistung des existenziellen und ausbildungsbezogenen Unterkunftsbedarfs (...) jedenfalls dann eine verfassungsrechtliche Grenze, wenn – wie 2021 – die durchschnittlichen Unterkunftskosten Studierender im Vergleich der Bundesländer bis zu 140 Euro differieren“, heißt es in besagter Mitteilung.
„Zwei Gerichte bestätigen, was leider seit tatsächlich Jahrzehnten klar ist. Das BAföG hinkt heillos hinter der Entwicklung von Preisen, Inflation, Mieten und Einkommen hinterher“, äußerte sich am Mittwoch Matthias Anbuhl, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Studierendenwerks (DSW). Das BAföG werde schon viel zu lange „vernachlässigt und viel zu wenig gestärkt. Es ist und bleibt aber eine kulturelle Errungenschaft unseres Sozialstaats und das wichtigste Instrument für mehr Chancengleichheit im sozial nach wie vor stark selektiven Hochschulsystem.“
Status bestimmt Bildung
Wie sehr es in dieser Hinsicht in Deutschland hapert, offenbart eine aktuelle Erhebung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). Dessen Forscher untersuchen seit 1985 die sogenannten sozialgruppenspezifischen Bildungsbeteiligungsquoten (BBQ) in der Bevölkerung. Im Kern gehen sie der Frage nach, in welchem Maß die soziale Herkunft bestimmend für den Bildungsweg und schlussendlich die Aufnahme eines Hochschulstudiums ist. Zur Veranschaulichung der Ergebnisse verwenden sie ein Modell – den Bildungstrichter.
Die Vorstellung ist die: Oben kommen alle Neugeborenen jeder erdenklichen Herkunft hinein und durchlaufen anschließend verschiedene Bildungsphasen, vom Kindergarten über Grundschule, weiterführende Schule bis gegebenenfalls zu einem Studium. Allerdings gelingt das eben nicht allen, unterwegs gibt es erhebliche „Verluste“, was sich in den meisten Fällen mit der familiären Prägung begründet.
Trichter ziemlich undurchlässig
Der bedrückende Befund für den Betrachtungszeitraum 2021 lautet: „Von 100 Kindern aus akademisch gebildeten Familien beginnen 78 ein Hochschulstudium. Bei nicht-akademisch gebildeten Familien sind es gerade einmal 25 von 100.“ Dabei habe auch der starke Anstieg der Studienanfängerquote in den vergangenen Jahren „nicht zu einem nennenswerten Abbau herkunftsspezifischer Ungleichheiten beim Zugang zu hochschulischer Bildung geführt“, beschied Studienautorin Ulrike Schwabe in einem Pressestatement.
Das erscheint fast noch beschönigend. Verglichen mit der vorangegangen Analyse aus dem Jahr 2018, hat sich die Lage sogar zugespitzt. Von 100 sogenannten Akademikerkindern nahmen seinerzeit 79 ein Studium auf. Von 100 Kindern aus einem Nicht-Akademikerhaushalt waren es immerhin 27. Es sieht so aus, als wären die kleinen Fortschritte der Vergangenheit bald wieder null und nichtig. Die neueste Bestandsaufnahme kommt der von 2009 bedenklich nahe: Damals schafften es gerade einmal 23 Prozent der Kinder aus sozial benachteiligtem Elternhaus an eine Hochschule, heute, 15 Jahre später, lediglich zwei Prozent mehr.
Mit Absicht verrechnen
Die Entwicklung hat fraglos mit dem Niedergang des BAföG zu tun, das heute gerade noch rund zwölf Prozent aller Studierenden erreicht. Die neueste Kleckerreform der Ampel verspricht da auch keine Abhilfe. Passend dazu beanstandet das Berliner Verwaltungsgericht eine ganze Reihe an „schwerwiegenden methodischen Fehlern“ bei der Ermittlung der Fördersätze. Zum Beispiel würden „fehlerhaft als Referenzgruppe solche Studierendenhaushalte miteinbezogen, die lediglich über ein Einkommen in Höhe der BAföG-Leistungen verfügten“. Es fehle zudem an einer Differenzierung verschiedener Kostenarten, etwa denen für den Lebensunterhalt und denen für die Ausbildung. Außerdem versäume es die Regierung, die Bedarfssätze „zeitnah an sich ändernde wirtschaftliche Verhältnisse“ anzupassen.
Beim studentischen Dachverband fzs glaubt man, „die falsche Berechnung ist Absicht“. Auch die Ampelkoalition wolle „keinen realistischen Etat unter Berücksichtigung eines existenzsichernden BAföGs festsetzen, stattdessen profiliert man sich lieber mit einem scheinbar schlanken Haushalt“, monierte Verbandsvorständin Schüssler. Sie hofft auf ein baldiges Eingreifen durch Karlsruhe. „Seit 2021 lässt uns das Bundesverfassungsgericht auf eine Entscheidung warten, diese muss nun endlich kommen.“
Sozialpolitisches Armutszeugnis
Im Zusammenhang mit dem Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts wurden bisher nur Stellungnahmen eingeholt. Ein Verhandlungstermin ist noch nicht angesetzt. Auch Andreas Keller, Vizevorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) baut auf höchsten richterlichen Beistand. „Die Ampel steuert mit ihrer knausrigen Reform auf eine Klatsche aus Karlsruhe zu“, sagte er Studis Online. „Diese kann sie nur vermeiden, wenn sie schnellstmöglich eine 30. Novelle auf den Weg bringt und so für eine kräftige Erhöhung von Bedarfssätzen und Wohnpauschale sorgt. Alles andere wäre ein bildungs- und sozialpolitisches Armutszeugnis.“ (rw)