Arm, ärmer, StudentJeder dritte Hochschüler in Existenznot
Bildung ist und bleibt ein »Existenzrisiko«. Wer in Deutschland ein Studium oder eine Berufsausbildung absolviert und außerhalb des Elternhauses wohnt, ist in der Mehrzahl der Fälle arm. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) am Mittwoch mitteilte, betrifft dies 77 Prozent der allein lebenden Hochschüler und 54 Prozent der Azubis.
In der Gesamtsicht fallen 35 Prozent aller Studierenden in diese Kategorie und 18 Prozent der jungen Menschen, die eine Lehre durchlaufen. Ferner verdeutlichen die Zahlen einmal mehr: Staatliche Hilfsleistungen, namentlich die Bundesausbildungsförderung (BAföG), genügen den Bedürfnissen nicht ansatzweise. Unter den Einnahmequellen der Betroffenen bilden entsprechende Bezüge oft nur noch ein Aufgeld neben der Erwerbsarbeit, aber nichts, womit sich sorgenfrei studieren oder lernen ließe.
Bestenfalls Stillstand
Die Befunde liefern bestenfalls ein Bild des Stillstands. Ende 2022 waren die Wiesbadener Statistiker auf derselben Datengrundlage zu sehr ähnlichen Ergebnissen gelangt. Demnach waren 2021 knapp 37,9 Prozent der Studierenden „armutsgefährdet“ und damit zwar knapp drei Prozent mehr als 2023. Unter jenen mit eigener Bleibe hat sich die Situation indes verschärft. Seinerzeit waren von ihnen 76,1 Prozent betroffen, zwei Jahre später ein Prozent mehr.
Zur Einordnung: 2021 wirkte die Pandemie mit voller Wucht. Zahllose Studierende hatten ihren Job verloren oder mussten mit geringerer Unterstützung durch ihre Eltern auskommen. 2023 hatte sich die Lage an der Corona-Front weitgehend entspannt. Trotzdem ist die Armutsquote seither nicht nennenswert zurückgegangen, auch nicht im Zuge der im Herbst 2022 aufgelegten 27. BAföG-Novelle. Und dass es mit der zum kommenden Wintersemester wirksamen Reform Nummer 29 besser wird, erscheint ziemlich fraglich.
„Nur noch beschämend“
Nicole Gohlke von der Gruppe Die Linke im Bundestag findet das alles „nur noch beschämend“, wie sie kommentierte. Unter den herrschenden Bedingungen werde Studieren „zum Luxus“. Nur noch diejenigen, deren Eltern Unterhalt zahlen, könnten sich ganz aufs Studium konzentrieren. Mit ihrer Tatenlosigkeit bewiesen die politisch Verantwortlichen, dass ihnen „die jüngeren Generationen schlichtweg egal sind“, erklärte sie in einem Pressestatement.
Die Daten zeigten, „wie groß der Handlungsdruck beim BAföG weiterhin ist“, auch über die jüngste Novelle hinaus, nahm Matthias Anbuhl, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Studierendenwerkes (DSW) Stellung. Herzstück einer Nachfolgeregelung müsse die „automatische Anpassung der Freibeträge und Bedarfssätze sein an die Entwicklung von Preisen und Einkommen sowie die Direktauszahlung des Kindergelds an volljährige Studierende und Auszubildende“.
Mit der jüngsten Reform wird der BAföG-Höchstsatz inklusive Zuschüssen zum Wohnen und zur Kranken- und Pflegeversicherung 992 Euro betragen. Dagegen lag die amtliche Armutsschwelle für Einzelhaushalte 2023 bei 1.314 Euro netto im Monat, was 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung entsprach. Im Schnitt hätte im Vorjahr die Hälfte der Studierenden über Bezüge von weniger als 867 Euro verfügt, gaben die Wiesbadener Statistiker bekannt.
Wohnen bringt Not
Grundlage ihrer Befunde ist die europäische Gemeinschaftserhebung EU-SILC. Diese stelle die Hauptdatenquelle für die Messung von Armutsgefährdung und Lebensbedingungen in Deutschland sowie in den EU-Mitgliedstaaten dar.
Nach dieser Messlatte galten zuletzt 14,3 Prozent der Menschen in Deutschland als „armutsgefährdet“, weitere 6,9 Prozent litten unter „erheblicher materieller und sozialer Entbehrung“. Dagegen stecken von den allein lebenden Studierenden drei von vier in materiellen Nöten.
Hauptursache sind die exorbitant überhöhten Mieten, die laut Destatis im Mittel 54 Prozent ihrer Einkünfte auffressen. In der Gesamtbevölkerung beläuft sich der Wert auf 25 Prozent. Ein Niveau von 40 Prozent gilt offiziell als Schwelle zur „Überlastung“. Für allein wohnende Studierende traf diese 2023 in 61 Prozent der Fälle zu.
„Neue Form sozialer Auslese“
Demnächst steigt die Wohnkostenpauschale auf 380 Euro. Das sind zwar 20 Euro mehr als bisher, aber 30 Euro weniger als die sogenannte Düsseldorfer Tabelle (410 Euro) vorgibt, die in Fragen des Unterhaltsrechts von Studierenden herangezogen wird. Selbst damit lässt sich in kaum einer deutschen Hochschulstadt ein WG-Zimmer auftreiben, geschweige denn eine eigene Wohnung.
Kritiker fordern schon länger, die Zuwendungen an den Preisen der örtlichen Wohnungsmärkte zu orientieren, was die Bundesregierung mit ihrer Reform jedoch unterließ. DSW-Chef Anbuhl monierte: „Die Wahl der Hochschule hängt immer mehr davon ab, ob ich mir dort die Miete in der Stadt leisten kann. Das ist eine neue Form der sozialen Auslese!“
1.200 Euro Vollzuschuss
In „dringender Bringschuld“ sieht Andreas Keller, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) die Ampel ebenso in puncto Bedarfssätze. Über die kümmerliche Zugabe von fünf Prozent hinaus brauche es „noch in dieser Wahlperiode eine kräftige BAföG-Reform mit dem Richtwert von mindestens 1.200 Euro als Vollzuschuss, der nicht zurückbezahlt werden muss“, befand er gegenüber Studis Online.
Gemäß Destatis bezeichnen bloß noch 14 Prozent der Studierenden mit eigener Haushaltsführung das BAföG oder Stipendien als wichtigste Einkommensart. Eine weit größere Rolle spielen Unterhaltszahlungen der Eltern (41 Prozent) und Erwerbsarbeit neben dem Studium (36 Prozent).
Ihre Einkünfte generieren sie im Schnitt zu 41 Prozent aus Erwerbsarbeit, zu 32 Prozent aus privaten Zuwendungen von Eltern und Verwandten, lediglich zu 15 Prozent aus BAföG-Leistungen oder Stipendien sowie zu 13 Prozent mittels Kindergeld oder Hinterbliebenenrente.
Mindestlohn rauf
„Ein Vollzeitstudium ist ein Vollzeitjob“, weshalb auch das BAföG die „einzig notwendige Einkommensquelle“ von Studierenden sein sollte, gab Niklas Röpke im Gespräch mit Studis Online zu bedenken. Das scheidende Vorstandsmitglied beim „freien zusammenschluss von student*innenschaften“ (fzs) erinnerte an ein bevorstehendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, das vermutlich die Bestimmungen zur Ermittlung der Bedarfssätze beanstanden wird.
Auch deshalb müsse für alle Parteien eine umfassende Reform ein Kernanliegen der Bildungspolitik ihrer Wahlprogramme zur Bundestagswahl sein, „alles andere wäre realitätsfern“. Bis es allerdings so weit sei, müsse der Mindestlohn „schon jetzt drastisch angehoben werden, um die notwendige Arbeitszeit neben dem Studium zu senken“, so Röpke.
Messlatte Bürgergeld
Erst neulich hat das Berliner Verwaltungsgericht das BAföG als verfassungswidrig eingeschätzt, weil es nicht das Existenzminimum abdeckt und der für Wohnkosten vorgesehene Betrag längst nicht dem tatsächlichen Bedarf entspricht. Das Fazit der Richter lautete: „BAföG für Studierende darf nicht geringer sein als Bürgergeld.“ Auch dieser Fall geht jetzt nach Karlsruhe. (rw)