Karlsruher SkandalurteilKein Rechtsanspruch auf ausreichend BAföG
Schlechte Neuigkeiten aus Karlsruhe. Die Bemessung des Grundbedarfs nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) verstößt nicht gegen das Grundgesetz. So hat es am heutigen Mittwoch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden. In einer Pressemitteilung stellt der Erste Senat des Gerichts fest, „dass mittellose Hochschulzugangsberechtigte sich nicht auf einen subjektiven verfassungsrechtlichen Anspruch auf staatliche Leistungen zur Ermöglichung eines Studiums berufen können, dem die Bemessung der Grundpauschale widersprechen könnte“.
Das Urteil ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht der Studierenden und ihrer Interessenvertreter. Es ist auch eine faustdicke Überraschung und ein Politikum. Tatsächlich hatte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig (BVervG) im konkreten Fall in einem vor über drei Jahren ergangenen Beschluss in den geltenden Regularien einen Verstoß gegen die Verfassung konstatiert und die Streitsache zur Klärung nach Karlsruhe verwiesen.
Gleichstellung mit Bürgergeld
Zudem war im Juni dieses Jahres ein Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts (VG) mit ähnlicher Stoßrichtung ergangen. Die Richter erachteten dabei den im Wintersemester 2021/22 bewilligten BAföG-Regelsatz „in verfassungswidriger Weise“ als zu niedrig bemessen und setzten als Richtgröße die seinerzeit geltende Hartz-IV-Regelleistung an. Die belief sich auf 446 Euro, der BAföG-Grundbedarf lediglich auf 427 Euro.
Das VG beließ es indes nicht bei einer „Rückschau“, sondern verlangte perspektivisch die Gleichstellung des BAföG mit dem Bürgergeld, welches das Hartz-IV-System zum Jahresanfang 2023 abgelöst hatte. Die Sozialleistung für Langzeitarbeitslose ist dem BAföG-Regelsatz inzwischen noch viel weiter enteilt. Zeitweise betrug die Lücke 111 Euro. Heute, nach Inkrafttreten der jüngsten BAföG-Reform, sind es noch 88 Euro (475 Euro/563 Euro).
Das Gericht bemängelte ferner die Realitätsferne der Zuwendungen im Rahmen der BAföG-Wohnpauschale (neuerdings 380 Euro), die gegenwärtig nahezu flächendeckend die tatsächlichen Mietkosten nicht abdeckt. Auch in diesem Punkt sahen die VG-Richter den Gesetzgeber in der Bringschuld. Sie verwiesen den Fall ebenso zur abschließenden Entscheidungsfindung nach Karlsruhe.
„Selbsthilfe“ hat Vorrang
Dort setzte es nun eine deftige Klatsche, wenngleich vorerst nur beim Thema Bedarfssätze. „Aus dem objektiv-rechtlichen sozialstaatlichen Auftrag zur Förderung gleicher Bildungs- und Ausbildungschancen folgt derzeit keine spezifisch auf die Hochschulausbildung bezogene Handlungspflicht des Staates“, befindet das BVerfG. Die Argumentationslinie folgt dabei der Frage, ob Studierende überhaupt sozial bedürftig sind, was praktisch verneint wird. Solange diese eine materielle Not durch Aufnahme einer Erwerbsarbeit abwenden können, bestehe auch kein Anspruch auf eine die Aufwendungen für eine Ausbildung umfassende staatliche Unterstützung.
Das ist harter Tobak und im Juristendeutsch liest sich das wie folgt: „Dieser Nachrang des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen gegenüber der Selbsthilfe gilt auch dann, wenn deshalb bestimmte grundrechtliche Freiheiten wie die hier in Rede stehende, einer nach Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Ausbildung an einer Hochschule nachzugehen, wegen fehlender Mittel nicht ausgeübt werden können.“ Faktisch wird damit die Anfang der 1970er-Jahre von den historischen Wegbereitern des BAföG formulierte Anforderung, mit den Mitteln den Lebensunterhalt neben dem Studium komplett bestreiten zu können, kurzerhand abgeräumt.
Existenzminimum? Nix da!
Andreas Keller, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), zeigt sich ob der Härte des Richterspruchs irritiert. „Karlsruhe nimmt letztlich hin, dass Studierende ihr Studium abbrechen müssen, wenn sie dafür keine ausreichende Finanzierung haben“, äußerte er sich am Mittwoch gegenüber Studis Online. „Es ist für die GEW enttäuschend, dass das Gericht die Grundrechte auf eine menschenwürdige Existenz und Berufswahlfreiheit in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip derart restriktiv ausgelegt hat.“
Wie gesagt: Angesichts der klaren Voten des Bundes- und des Berliner Verwaltungsgerichts wirkt der finale Richterspruch wie aus der Zeit gefallen. Beide Gerichte hatten noch ausdrücklich die verpflichtende Gewährleistung eines „ausbildungsbezogenen Existenzminimums“ betont, der sich aus den Grundgesetzartikeln 12 (freie Wahl der Ausbildungsstätte), 3 (Gleichheitsgrundsatz) und 20 (Sozialstaatsprinzip) ergebe. Dass die „Vorgesetzten“ in Karlsruhe das rundweg abstreiten, hat mindestens ein „Geschmäckle“. Oder haben die unteren Instanzen von der Materie einfach keine Ahnung? Wohl kaum …
Geschockt zeigt man sich auch beim „freien zusammenschluss von student*inneschaften“ (fzs). Das ist eine „fatale Entscheidung“, sagte Vorstandsmitglied Emmi Kraft im Gespräch mit Studis Online. „Die Lage der Studierenden war schon vor drei Jahren angespannt, als Leipzig sein Urteil fällte. Mittlerweile ist sie mehr als prekär.“ Ihre Mitstreiterin Lisa Iden ergänzte in einer Medienmitteilung: „In unseren Augen muss allen Menschen der Weg ins Studium offenstehen. Studentische Armut als von Studierenden selbstverschuldete Situation darzustellen, verkennt das eigentliche Ziel des BAföG: Chancengleichheit.“
Studium „nicht unverzichtbar“
Die höchsten deutschen Richter sehen das anders. In ihrem Kosmos haben diejenigen, die aus ärmeren Familienverhältnissen stammen, schlicht Pech gehabt und kein Vorrecht auf eine irgendwie auskömmliche Finanzierung ihres Studiums von Staats wegen. Im Notfall bedeutet das dann eben, entweder gar nicht erst studieren zu können oder das Studium aus Geldnöten abbrechen zu müssen.
Freilich drückt ein Jurist auch das vornehmer aus: „Die Ermöglichung des Studiums mittelloser Hochschulzugangsberechtigter erscheint im Verhältnis zu anderen Sozialbedarfen nicht derart unverzichtbar, dass die dafür notwendigen Mittel ausnahmsweise durch die Anerkennung eines entsprechenden Leistungsrechts (...) den Verteilungsentscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers dauerhaft entzogen werden können.“
So steht es in der Urteilsbegründung und an die politischen Entscheider geht damit die Botschaft, ihren Ermessensspielraum bei der Ausgestaltung des BAföG wie bisher auch weiterhin maximal restriktiv auszuschöpfen. Mehr noch degradiert Karlsruhe das Gebot der Chancen- und Bildungsgerechtigkeit zu einer rein monetären Variable, indem diesem nur zu genügen ist, wenn der Staat gerade über genug Geld verfügt.
Auch wenn es eine sozialstaatliche Aufgabe sei, „auf einen Abbau von den sozialen Verhältnissen geschuldeten Hindernissen für die Ausübung grundrechtlicher Freiheit hinzuwirken“, seien dem Staat durch seine Finanzsituation Grenzen gesetzt, und der sozialstaatliche Auftrag habe von Verfassungs wegen keinen Vorrang vor anderen staatlichen Aufgaben, heißt es im Beschluss.
Chancengleichheit nachrangig
Bekanntlich haben die Regenten nie genug Geld zur Verfügung – oder sehen anderes als „wichtiger“ an –, um dringende sozialstaatliche Erfordernisse zu erfüllen. Was dann konkret in immer wieder neuen BAföG-Kleckerreformen wie der jüngsten seinen Ausdruck findet, verbunden dem Fingerzeig: Wollt Ihr studieren, müsst ihr das eben in Armut tun.
Von einer „herben Enttäuschung“ sprach heute auch Joachim Schaller, der die Klägerin als Rechtsanwalt durch alle Instanzen bis hoch vors Bundesverfassungsgericht begleitet hat. „Für gleiche Bildungs- und Ausbildungschancen wird nicht gesorgt, wenn Studierende in einer finanziellen Notlage ihr Studium abbrechen müssen, um existenzsichernde Leistungen bekommen zu können, und dann in vielen Numerus-Clausus-Fächern keine Chance mehr haben, später ihr Studium fortzusetzen, weil Bewerbungen für höhere Fachsemester unmöglich sind“, bemerkte er gegenüber Studis Online.
Schaller sieht jetzt die Bundesregierung am Zug. „Politisch weiterhin geboten ist eine deutliche Erhöhung der BAföG-Bedarfssätze, die mit bis zu 475 Euro deutlich unter den 563 Euro Regelbedarf beim Bürgergeld liegen, in dem keine Ausbildungskosten enthalten sind, und nur bei Schülerinnen und Schülern sowie bei bei den Eltern wohnenden Studierenden durch Bürgergeld aufgestockt werden können“.
Druck machen!
Einen raschen und kräftigen Nachschlag brauche es überdies bei der BAföG-Wohnpauschale, setzte Schaller hinzu. Über den auch diese Frage betreffenden Vorlagebeschluss des Berliner Verwaltungsgerichts hat das BVerfG noch zu entscheiden. Nach dem heutigen Urteil ahnt man schon, dass auch dieser Vorstoß höchstrichterlich abgeschmettert wird.
Auch GEW-Vize Keller nimmt die Ampel in die Pflicht. „Das ist aber kein Grund für Bundestag und Bundesregierung, sich jetzt zurückzulehnen und die Studierenden ihrem Schicksal zu überlassen.“ So habe das Gericht ausdrücklich bestätigt, dass der Staat einen verfassungsrechtlichen Auftrag zur Förderung gleicher Bildungs- und Ausbildungschancen hat, der sich zu einer Handlungsverpflichtung verdichten könne. „Ich erwarte daher von der Ampelkoalition, die ‚Bildung und Chancen für alle‘, ein ‚Jahrzehnt der Bildungschancen‘ und eine umfassende BAföG-Reform versprochen hat, dass sie diesen verfassungsrechtlichen Auftrag ernst nimmt“, so der Gewerkschafter.
Von allein wird das nicht gehen, wie auch Rechtsanwalt Schaller weiß: „Damit die Studierenden nicht weiter arm bleiben müssen, ist daher weiterhin politischer Druck erforderlich, der nicht nur, aber auch bei der nächsten Bundestagswahl möglich ist.“ (rw)