Spuren der SDS-Hochschuldenkschrift in der Debatte um die Reform der AusbildungsförderungVom Studienhonorar zum Sockelmodell
Visionäre Forderung in den 1960ern: Das Studienhonorar
Von Andreas Keller
In Kürze wird das 27. BAföG-Änderungsgesetz vom Bundestag verabschiedet, weitere Änderungen sollen in den kommenden Jahren folgen. Studis Online hat das als Anlass genommen, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Herausgeber:innen einen thematisch passenden Artikel aus dem BdWi-Studienheft 13 zu veröffentlichen.
Die Hochschuldenkschrift des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) wurde zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, als der Zugang zum Studium in der Bundesrepublik Deutschland noch außerordentlich restriktiv ausgestaltet war. Zwar waren die Studierendenzahlen aufgrund des wachsenden Wohlstands immer breiterer Bevölkerungsschichten und der günstigen Arbeitsmarktlage für Akademiker*innen von rund 95.000 (1948) über 123.000 (1955) auf 206.500 (1960) angestiegen, der Zugang zur Hochschule blieb indes in sozialer Hinsicht äußerst selektiv.1
Der Anteil der Arbeiter*innenkinder an der Studierendenschaft stieg zwar von 1949 bis 1962 von 3,7 auf gerade mal 6,0 Prozent. Im selben Zeitraum vergrößerte sich der Anteil der Akademiker*innenkinder von 26,4 auf 32,4 Prozent. Der Frauenanteil betrug 1951 gerade mal 16 Prozent und lag noch 1961 mit 22,2 Prozent nur geringfügig über dem Wert der ausgehenden Weimarer Republik (1932: 18,6 Prozent).
Ein Studium konnten sich weite Teile der Bevölkerung schlicht nicht leisten. In den meisten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland wurden die Schulgelder an Gymnasien erst zum Schuljahr 1957/58 abgeschafft. Studiengebühren in Form von Hörergeldern waren bis 1970 üblich. Erst 1957 wurde mit dem Honnefer Modell eine erste Form der Studienförderung eingeführt. Auf sie gab es jedoch keinen Rechtsanspruch, es musste vielmehr eine besondere Begabung nachgewiesen werden.
Vor diesem Hintergrund wirkt die in der SDS-Hochschuldenkschrift erhobene Forderung nach einem Studienhonorar geradezu revolutionär.2 Das war sie aber ursprünglich nicht in dem Maße, wie es 60 Jahre später erscheinen mag. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts fand die Idee eines Studierendengehalts in zahlreichen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Westeuropas Anklang und wurde in den Wohlfahrtsstaaten der nordischen Länder umgesetzt.
Bis heute erhalten Studierende in Dänemark mit dem Statens Uddannelsesstøtte ein elternunabhängiges Stipendium, aktuell in Höhe von umgerechnet ca. 850 Euro monatlich. Nicht unerwähnt bleiben sollte in diesem Zusammenhang das Grundstipendium in der DDR, das ebenfalls elternunabhängig gewährt wurde.
Bereits 1946 hatte die französische Studierendengewerkschaft UNEF die Forderung nach einem Ausbildungsgehalt erhoben – als Ausdruck eines Selbstverständnisses der Studierenden als (Geistes-)Arbeiter*innen mit einem Anspruch auf Urlaub und Gehalt.3 Diese Haltung spiegelte sich auch im »Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte« (UN-Sozialpakt) von 1966 wider, der Gebührenfreiheit und Stipendiensysteme in der Hochschulbildung als Ausdruck des allgemeinen Rechts auf Bildung festschrieb.
In diesem Kontext ist die Forderung des SDS 1961 nach »Anerkennung der Tätigkeit des Studenten als gesellschaftlich notwendige und wertvolle Arbeitsleistung durch eine kostendeckende ›Arbeitsentschädigung‹ für alle Studenten (ein sog. Studienhonorar)«4 zu sehen. Die Höhe des Honorars sollte aus Sicht des SDS so bemessen sein, dass »damit die Lebenshaltungskosten, die Kosten für Lernmittel und kulturelle Bedürfnisse gedeckt« werden können, hinzutreten sollten »Pauschalen und Zulagen für die unterschiedlichen Mietkosten, besondere Lernmittel etc.« Im Gegenzug sollten indirekte Fördermaßnahmen wie verbilligtes Essen oder Wohnen abgebaut werden.
Dreh- und Angelpunkt der heutigen Debatten um eine Reform der Ausbildungsförderung ist die Forderung nach Chancengleichheit. Dieser Aspekt (»Demokratisierung des Bildungswesens durch Sicherung gleicher Startchancen und Entfaltungsmöglichkeiten für alle Begabten«5), spielte auch in der SDS-Hochschuldenkschrift eine Rolle, aber nicht die zentrale. Im Mittelpunkt stand vielmehr ausgehend vom Verständnis der Hochschule als Betrieb zum einem das Recht auf »gerechte Entlohnung einer Arbeitsleistung, die für die moderne Industriegesellschaft unentbehrlich ist«6. Zum anderen ging es um die Emanzipation der Studierenden – auch von ihren Eltern, die als Unterhaltsverpflichtete die Finanzierung eines Studiums von der Fachwahl nach ihren Vorstellungen abhängig machen oder überhaupt verweigern konnten. Die Konzeption des Studienhonorars als elternunabhängig hat hier ihre Wurzeln. Hiervon ausgehend wurde in der antiautoritären Studierendenbewegung der Begriff des »Klassenverrats« geprägt: Der Bankierssohn sollte eben auch Soziologie studieren und sich zum intellektuellen Kopf der Arbeiter*innenbewegung ausbilden lassen können.
Das 1961 bestehende Honnefer Modell wurde dementsprechend einer scharfen Kritik unterzogen. Die diesem zugrundeliegenden Voraussetzungen der Bedürftigkeit (Subsidiarität) und der durch die Hochschule zu überprüfenden Eignung als Fördervoraussetzung sowie der Darlehensanteil widersprachen dem Konzept eines Studienhonorars fundamental. In der SDS-Hochschuldenkschrift wurde herausgearbeitet, dass dem Honnefer Modell Gedanken einer »Begabtenauslese« sowie der »Erziehungsanspruch, eine ›geistige Elite‹ aus der auf die Universitäten zuströmenden ›Masse‹ auszusondern«7, zugrunde lägen.
Nichts Geringeres als eine umfassende Demokratisierung der Hochschulen forderte der Sozialistische Studentenbund (SDS) in seiner 1961 veröffentlichten Hochschuldenkschrift Hochschule in der Demokratie. Was heute zum Standardrepertoire progressiver Hochschulpolitik gehört, glich im postnazistischen Westdeutschland und Westberlin mit seinen stark hierarchisch geprägten Ordinarienuniversitäten einem Paukenschlag.
Das BdWi-Studienheft 13, das BdWi, GEW und fzs zusammen herausgegeben haben, zeichnet Ideen und Wirkungen der Hochschuldenkschrift nach und diskutiert die Aktualität der SDS-Forderungen im Zeitalter der „unternehmerischen Hochschule“.
Einführung und Genese des BAföG
Es war dann aber in erster Linie nicht der emanzipatorische Ansatz der SDS, sondern »Sputnik-Schock« und »Bildungskatastrophe«, die Ende der 60er Jahre die Politik unter Druck setzten. Die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit des bundesdeutschen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems war auch davon abhängig, dass die Bildungsreserven von bisher bildungsfernen Schichten erschlossen wurden. Das setzte eine leistungsfähige Ausbildungsförderung voraus, die über den zaghaften Ansatz des Honnefer Modells hinausging. Vor 50 Jahren, 1971, trat das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) in Kraft, das die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) auf den Weg gebracht hatte.8
Anders als das Honnefer Modell normiert das Gesetz einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung »für eine der Neigung, Eignung und Leistung entsprechende Ausbildung« (§ 1 BAföG). Eine besondere Begabung brauchte nicht nachgewiesen zu werden, ausreichend für die Förderung des Studiums ist ein Studienplatz, der wiederum durch den Nachweis einer Hochschulzugangsberechtigung erlangt werden kann. Dass eine Hochschule einen Studienplatz nur dann verweigern durfte, wenn nachweislich die Ausbildungskapazitäten erschöpft waren, entschied das Bundesverfassungsgericht ein Jahr später im wegweisenden Numerus clausus-Urteil von 1972.9 Da das neue BAföG zugleich einen Rechtsanspruch auf Förderung des Besuchs weiterführender allgemeinbildender Schulen festschrieb, der trotz zweitem und drittem Bildungsweg bis heute den Königsweg zur Hochschulzugangsberechtigung darstellt, waren die Türen zum Hochschulstudium für bisher von diesem ausgegrenzte Bevölkerungsschichten so weit offen wie nie zuvor.
Auf der anderen Seite blieb das BAföG dem paternalistischen deutschen Sozialstaatsmodell verhaftet. Der Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung gilt, »wenn dem Auszubildenden die für seinen Lebensunterhalt und seine Ausbildung erforderlichen Mittel anderweitig nicht zur Verfügung stehen« (§ 1 BAföG). Mit den anderweitig zur Verfügung stehenden Mitteln sind nicht nur eigenes Einkommen, sondern auch das der Eltern der Schüler*innen und Studierenden gemeint. Die Ausbildungsförderung nach dem BAföG ist also gerade kein elternunabhängiges Studienhonorar, sondern eine elternabhängige Sozialleistung.
Immerhin wurde diese 1971 zunächst wie alle anderen Sozialleistungen auch als Zuschuss gewährt, der nicht zurückgezahlt werden musste. Das BAföG erreichte 1972 mit 44,6 Prozent fast die Hälfte aller eingeschriebenen Studierenden und wirkte damit in der Fläche.10 Doch ebenso wie kurz darauf die Hochschulreform insgesamt ins Stocken kam und reaktionäre Tendenzen an Boden gewannen – Fanal hierfür war das Zementieren absoluter Professor*innenmehrheiten in allen Forschung und Lehre substanziell betreffenden Entscheidungen von akademischen Selbstverwaltungsorganen in Folge des Hochschulurteils des Bundesverfassungsgerichts von 197311 –, setzte schon bald der allmähliche Ausverkauf des BAföG ein.
So blieb der Vollzuschuss beim Studierenden-BAföG eine Episode von gerade einmal drei Jahren. 1974 führte die sozial-liberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) einen festen Darlehensanteil von 70 DM ein, der bald schrittweise auf 150 DM erhöht wurde. Die christlich-liberale Koalition unter Helmut Kohl (CDU) stellte als eine der ersten Maßnahmen 1982 das Studierenden-BAföG auf ein Volldarlehen um. Diese Regelung bestand bis 1990 und führte dazu, dass Studierende in den 80er Jahren einen Schuldenberg von bis zu 70.000 DM anhäufen mussten. Seit 1990 bis heute beträgt der Darlehensanteil 50 Prozent.
Der BAföG-Kahlschlag von Union und FDP 1982 setzte auch bei der Schüler*innen-Förderung das Messer an und führte de facto zur Abschaffung der Ausbildungsförderung an weiterführenden allgemeinbildenden Schulen. BAföG gibt es für sie bis heute nur noch ausnahmsweise bei ausbildungsbedingter auswärtiger Unterbringung – wenn also z. B. das nächstgelegene Gymnasium zu weit vom Elternwohnort entfernt ist. Da der deutsche »Bildungstrichter«12 die Bildungschancen von Kindern aus bildungsfernen Schichten nicht nur beim Hochschulzugang, sondern auch beim Übergang von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II an allgemein-bildenden Schulen, also beim Zugang zur gymnasialen Oberstufe, benachteiligt, muss die Abschaffung des Schüler*innen-BAföG als ein wesentlicher Faktor dafür angesehen werden, dass die Hochschulen trotz einer Studierquote von über 50 Prozent bis heute die Diversität der Gesellschaft nicht widerspiegeln und sozial exklusive Institutionen geblieben sind.
Ab Mitte der 90er Jahre wurde das BAföG durch einen zunehmenden Privatisierungsdruck im Bildungs- und Hochschulwesen unter Druck gesetzt. Das 1996 eingeführte verzinsliche Bankdarlehen für besondere Tatbestände, etwa die Studienabschlussförderung, wurde erst 2019 in ein zinsfreies Staatsdarlehen umgewandelt. 2001 kompensierte Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) mit verzinsten Bildungskrediten der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) den schleichenden Bedeutungsverlust des BAföG, von dem immer weniger Studierende profitierten. Den Bildungskrediten stellte Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) 2010, die zeitweise von einer Abschaffung des BAföG fantasierte, das Deutschlandstipendium zur Seite, mit dem Studierende ihr Budget um monatlich 300 Euro aufbessern können – wenn sich an ihrer Hochschule für ihre Fachrichtung ein*e private*r Sponsor*in findet, der die Hälfte des Stipendiums finanziert. Das Deutschlandstipendium hat sich allerdings mangels Sponsor*innen als Ladenhüter erwiesen: Statt der ursprünglich angepeilten acht erreicht dieses nur knapp ein Prozent aller Studierenden.13 Parallel experimentierten von 2006 bis 2014 nicht weniger als sieben der 16 Bundesländer, darunter die großen westdeutschen Flächenländer, mit allgemeinen Studiengebühren ab dem ersten Semester.
Auf der anderen Seite setzte Mitte der 90er Jahre auch eine intensive Debatte über eine Reform der Ausbildungsförderung ein. Explizit nahm dabei zwar niemand auf das Konzept des Studienhonorars des SDS Bezug, implizit stand es aber Pate für die in jener Zeit von Gewerkschaft Erziehung und Wissenshaft (GEW) und Deutschem Studentenwerk (DSW) diskutierten Körbe-, Sockel- und Stufenmodelle.14 Deren Grundidee war die Einführung einer elternunabhängigen Komponente des BAföG, die den ersten Sockel der Ausbildungsförderung bilden und durch weitere Stufen und Sockel – elternabhängige Zuschussförderung, elternunabhängige Darlehensförderung oder Mischmodelle – ergänzt werden sollte. Im Gegenzug sollten Transferzahlungen des Familienleistungsausgleichs (Kindergeld und steuerliche Freibeträge) abgeschafft werden. Von diesen Transferzahlungen profitieren aufgrund der Steuerprogression bis heute Eltern mit hohen Einkommen besonders, während Geringverdiener*innen maximal das Kindergeld erhalten, Hartz-IV-Empfänger*innen aufgrund der Anrechnung des Kindergelds auf die Grundsicherung sogar ganz leer ausgehen. Ein weiteres Problem ist, dass Kindergeld und Freibeträge häufig nicht bei den Studierenden und Schüler*innen ankommen, sondern von den Eltern für andere Zwecke verausgabt werden.
SPD und Grüne hatten eine entsprechende Strukturreform der Ausbildungsförderung 1998 in die Koalitionsvereinbarung der ersten rot-grünen Bundesregierung aufgenommen. Deren Umsetzung scheiterte aber schon bald an einem Machtwort von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD).15 Viele Familien hätten Kindergeld und steuerliche Freibeträge für die Abzahlung der Immobilienkredite ihres Eigenheims verplant, lautete der Einwand des Regierungschefs.
Studienfinanzierung heute
2021 ist – 50 Jahre nach Inkrafttreten des BAföG – ein »Jubiläum im Allzeittief«16 zu feiern. Nur noch elf Prozent der Studierenden erhalten BAföG. Grund dafür ist, dass die Bedarfssätze und Freibeträge im Laufe der Jahrzehnte nur schleppend an die Entwicklung von Einkommen und Lebenshaltungskosten angepasst wurden. Diese Parameter sind zwar laut Gesetz alle zwei Jahre zu überprüfen, regelmäßig hat die Bundesregierung aber in ihren BAföG-Berichten die notwendigen Anpassungen unter Verweis auf die »finanzwirtschaftlichen Entwicklung« verweigert. So kam es von 2010 bis 2016 zu keiner einzigen Anpassung.
Neuerdings wird sogar die Verpflichtung der Regierung zur Berichterstattung ausgesetzt. So ist seit 2014 nur noch ein Bericht (2017) erschienen. Den eigentlich 2019 fälligen 22. Bericht hat die Große Koalition per Gesetzesänderung auf 2021 verschoben, aber bis zum Ende der Wahlperiode nicht vorgelegt. Die unzureichende Anpassung der BAföG-Bedarfssätze war schließlich auch Stein des Anstoßes für das Bundesverwaltungsgericht, das dem BAföG im Mai 2021 einen Verstoß »gegen den aus dem verfassungsrechtlichen Teilhaberecht auf chancengleichen Zugang zu staatlichen Ausbildungsangeboten folgenden Anspruch auf Gewährleistung des ausbildungsbezogenen Existenzminimums« bescheinigte.17
Dass das BAföG nach 50 Jahren so auf den Hund gekommen ist, machte und macht die Studierenden so verletzlich in der Coronakrise. Nach der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW) jobben mehr als zwei Drittel der Studierenden auch während der Vorlesungszeit und stocken so ihre BAföG-Förderung und Elternzuwendungen auf.18 Als im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 in der Gastronomie, in der Messewirtschaft oder im Einzelhandel Einnahmen wegbrachen, waren die studentischen Aushilfen die ersten Beschäftigten, die auf die Straße gesetzt wurden. Damit war einem entscheidenden Fundament des Systems der Studienfinanzierung der Boden entzogen – Studierende gerieten massenweise in existenzielle Not.
Mit großer Verzögerung reagierte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) und brachte im Juni 2020 eine Überbrückungshilfe auf den Weg, die im September 2021 ausläuft. Die Hilfe musste monatlich beantragt werden und betrug maximal 500 Euro, die als Zuschuss vom örtlichen Studierendenwerk ausgezahlt wurden. Dass nicht nur eine Notlage nachzuweisen ist, sondern auch belegt werden muss, dass diese pandemiebedingt ist, lässt viele Studierende leer ausgehen.
Von Juni 2020 bis August 2021 haben insgesamt gerade rund 100.000 Studierende für mindestens einen Monat Überbrückungshilfe bezogen. Die anderen werden in die Arme der KfW getrieben, deren Studienkredite in Höhe von 650 Euro monatlich vom Ministerium als zweites Element der Überbrückungshilfe angepriesen und bis Dezember zinsfrei gewährt werden. Ab Januar 2022 sind – selbstverständlich auch für die davor erhaltenen Zahlungen – Zinsen in Höhe von aktuell 4,36 Prozent zu entrichten, die sich bei einem auf zwölf Jahre ausgelegten Tilgungsplan zu einem Schuldenberg auf über 1.400 Euro summieren, wie eine Kleine Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag ergeben hat.19
Auch wenn sie die Trielle und Talkshows des Bundestagswahlkampfs 2021 nicht erreichte, bestimmte daher die Debatte um eine Reform des BAföG zumindest die fachpolitischen Diskussionen im Jubiläumsjahr. In ihren Wahlprogrammen sowie in den Antworten auf die wissenschaftspolitischen Wahlprüfsteine der GEW sprechen sich nicht nur Linke und Grüne, sondern auch SPD und FDP für eine grundlegende Reformen der Ausbildungsförderung aus.20 Alle vier Parteien plädieren nicht nur für die Abschaffung von Altersgrenzen und mehr Elternunabhängigkeit, sondern sie greifen auch die nach dem Schröderschen Machtwort von 2000 totgesagte Idee auf, Kindergeld und steuerliche Freibeträge zusammenzufassen und direkt an die Studierenden auszuzahlen.
Für diese Idee hatten sich zuvor die GEW und der Deutsche Gewerkschaftsbund eingesetzt, nachdem es beim DSW im Hinblick auf die Forderung nach einer grundlegenden Strukturreform in den letzten Jahren stiller geworden war.21 Die GEW hatte sich bereits in ihrem wissenschaftspolitischen Programm von 2009 für die Weiterentwicklung des BAföG zu einem »elternunabhängigen Studienhonorar für alle Studierenden«22 stark gemacht – unter impliziter Berufung auf das Konzept des SDS und damals im zeithistorischen Kontext als »das radikale Gegenprogramm zu Studiengebühren«23. In ihrem Positionspapier zum 50. Geburtstag des BAföG verwendet sie den Begriff erneut in ihrem Vorschlag für eine »umfassende Strukturreform der Ausbildungsförderung«.
Ausgehend von der Perspektive eines Studienhonorars schlägt die GEW als ersten Schritt in diese Richtung die Einführung eines elternunabhängigen Sockels vor, der, entsprechend des State of the Art der revitalisierten Reformdebatte, die Leistungen des Familienleistungsausgleichs ersetzen soll. Der zweite Sockel soll als Vollzuschuss elternabhängig die Ausbildungs- und Lebenshaltungskosten decken. Die Stellschrauben für eine Weiterentwicklung eines derart reformierten BAföG hin zum Studienhonorar wären dann zum einen der Umfang des elternunabhängigen Sockels, der schrittweise vergrößert werden könnte, zum anderen die Elternfreibeträge für den zweiten Sockel, die immer weiter angehoben werden könnten.
Aber Vorsicht: Mit einer elternunabhängigen Komponente kann auch Schindluder getrieben werden, wie das Modell eines »Baukasten-BAföG« der FDP-Bundestagsfraktion zeigt.24 Wenn es über einen elternunabhängigen Sockel von 200 Euro monatlich hinaus nur noch entweder eine leistungsabhängige Förderung oder ein Volldarlehen gibt, freuen sich Kinder besserverdienender Eltern über ein zusätzliches Taschengeld, während Studierende, die schon heute aufs BAföG angewiesen sind, mit substanziellen Verschlechterungen rechnen müssen. In Erinnerung ist außerdem die umstrittene Initiative der grünen Bundestagsfraktion aus den 90er Jahren, das BAföG in einen Bundesausbildungsförderungsfonds (BAFF) zu transformieren, der zwar eine elternunabhängige Förderung, aber zugleich eine lebenslange Beitragspflicht beim Überschreiten relativ niedriger Einkommensgrenzen vorsah.25 Insofern ist keineswegs ausgemacht, ob eine von einer Ampel- oder Jamaika-Koalition angepackte BAföG-Strukturreform eine fortschrittliche Richtung einschlägt oder zu massiven Verschlechterungen für einen Großteil der heutigen BAföG-Bezieher*innen führt.
Gleichwohl: Die Einführung eines elternunabhängigen Sockels, der über Familienleistungsausgleich teilweise gegenfinanzierbar wäre, aber den Gegenfinanzierungsanteil auch deutlich überschreiten und durch einen sozialstaatlich ausgestalteten zweiten Sockel bis zur Bedarfshöhe ergänzt werden müsste, wäre ein Einstieg in die Transformation der subsidiären Sozialleistung BAföG zum Studienhonorar, das vor 60 Jahren konzipiert wurde und bis heute nichts an seiner visionären Kraft eingebüßt hat. Der Kompass, der eine fortschrittliche Richtung in der Debatte um eine Strukturreform der Ausbildungsförderung anzeigt, ist auch 60 Jahre nach ihrer Veröffentlichung das Konzept für ein Studienhonorar der SDS-Hochschuldenkschrift: elternunabhängig und bedarfsdeckend, weder rückzahlungspflichtig noch leistungsabhängig.
Dr. Andreas Keller ist stellvertretender Vorsitzender und Vorstandsmitglied für Hochschule und Forschung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.
Fußnoten
1 Vgl. auch mit Nachweisen zu den weiteren Angaben: Andreas Keller 2000: Hochschulreform und Hochschulrevolte. Selbstverwaltung und Mitbestimmung in der Ordinarienuniversität, der Gruppenhochschule und der Hochschule des 21. Jahrhunderts, Marburg: 84ff.
2 Vgl. Wolfgang Nitsch u. a. 1965: Hochschule in der Demokratie. Kritische Beiträge zur Erbschaft und Reform der deutschen Universität, Berlin/Neuwied: 347ff.; Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS) 1972: SDS-Hochschuldenkschrift, 2. Aufl., Frankfurt/Main: 133ff.
3 Vgl. Wolfgang Nitsch 2008: »Studienhonorar statt Studiengebühren? Ein Rückblick auf die Studienfinanzierungsdebatte im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS)«, in: Andrea Adams / Andreas Keller (Hg.): Vom Studentenberg zum Schuldenberg? Perspektiven der Hochschul- und Studienfinanzierung (GEW Materialien aus Hochschule und Forschung 113), Bielefeld: 167 – 173.
4 SDS 1972: Hochschuldenkschrift: 138.
5 Ebd.: 139.
6 Ebd.
7 Ebd.: 135.
8 Vgl. auch zum Folgenden Andreas Keller 2021: »Jubiläum im Allzeittief: 50 Jahre BAföG«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2021: 13 – 16.
9 Vgl. BVerfGE 33: 303 ff.
10 Vgl. zur Förderquote 1972: Bundestagsdrucksache 7/1440.
11 Vgl. BVerfGE 35: 79.
12 Nancy Kracke / Daniel Buck / Elke Middendorff 2018: »Beteiligung an Hochschulbildung, Chancen(un)gleichheit in Deutschland«, in: DZHW Brief 3/2018: 1 – 8.
13 Vgl. Statistisches Bundesamt 2021: Förderung nach dem Stipendienprogramm-Gesetz (Deutschlandstipendium) 2020, Wiesbaden.
14 Vgl. Sabine Kiel 2008: »Die Diskussion um die Reform der Ausbildungsförderung in den Neunzigerjahren – eine Bilanz«, in: Andrea Adams / Andreas Keller (Hg.) 2008 (s. Anm. 3): 119 – 126.
15 Vgl. Andreas Keller / Rolf Weitkamp: »Den Studierenden einen Korb geben. SPD und Grüne geben BAföG-Reform auf«, in: Forum Wissenschaft 2/2000: 41 – 43.
16 Andreas Keller 2021 (s. Anm. 8).
17 Vgl. BVerwG 5 C 11.18.
18 Vgl. Elke Middendorff u. a. 2017: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2016. 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, Bonn/Berlin: 60.
19 Vgl. Bundestags-Drucksache 9/19920.
20 Vgl. https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/bundestagswahl-2021-parteien-antworten-auf-gew-wahlpruefsteine/ (Zugriff am 27.09.2021).
21 Vgl. DGB 2021: BAföG von Grund auf reformieren und bedarfsgerecht ausgestalten, Berlin; GEW, Hauptvorstand 2021: Zum 50. Geburtstag des BAföG: Talfahrt stoppen – Gerechtigkeitslücken schließen – Strukturreform anpacken, Frankfurt am Main.
22 GEW, Hauptvorstand 2015: Wir können auch anders! Wissenschaft demokratisieren, Hochschulen öffnen, Qualität von Forschung und Lehre entwickeln, Arbeits- und Studienbedingungen verbessern. Das wissenschaftspolitische Programm der GEW, 2. Aufl., Frankfurt/Main: 11f.
23 Andreas Keller 2008: »Studienhonorar statt Studiengebühren«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2008: 14 – 17; hier: 16.
24 Vgl. Bundestags-Drucksache 19/8956.
25 Vgl. Bundestags-Drucksache 13/10833.